EONA - Das letzte Drachenauge
Freude des Mobs, als sie geschlagen worden war. Neben ihr kniete Ryko mit angespannten Muskeln und wütendem Blick. Doch was konnte er tun? Jedem war ein Bewacher zugeteilt und um uns herum waren Tausende von Männern. Hinter Ryko kniete Tozay und seine Aufmerksamkeit war ganz auf Ido gerichtet, der ausgestreckt am Fuße des Podests lag. Das Drachenauge wurde flankiert von zwei aufmerksamen Jägern und befand sich immer noch in der Schattenwelt. Ido war so nah, dass ich den schwachen Puls an seinem Hals und das leichte Heben und Senken seiner Brust sehen konnte. Wie den anderen, hatte man auch ihm die Lederrüstung ausgezogen, und durch einen blutigen Riss im Ärmel seines Hemdes konnte man den Rand einer verschorften Wunde erkennen. Tozay sah zu mir herüber und blickte mich mit seinen klugen Augen fragend an. Er suchte nach einem Hoffnungsschimmer. Doch in Ido würde er keine Hoffnung finden. Selbst wenn das Drachenauge tatsächlich aufwachte, würde Sethon mich zwingen, Ido seinem Willen zu unterwerfen.
Ein Entschluss reifte in mir. Ich musste den Zwang durchbrechen, den Sethon auf mich ausübte, oder Kygo und die Übrigen wären binnen einer Viertelstunde tot. Kygo hatte mir einmal erzählt, die zwölf Stiche, mit denen ihm die Perle ins Fleisch genäht worden waren, seien das Qualvollste gewesen, was er je durchgemacht habe. Gewiss würde auch Sethon solche Qualen erleiden. Wenn auch nur für einen kurzen Moment. Das war meine einzige Chance, seine Macht über mich zu brechen. Es war ein großes Wagnis und es bedeutete auch, zu warten, bis Sethon die Perle von Kygos Hals gerissen hatte. Doch ich sah keinen anderen Weg. Zwölf Atemzüge und zwölf Stiche, um den Zwang zu durchbrechen und dann Kygo zu heilen. Weniger als eine Minute. War das überhaupt möglich? Aber ich musste es versuchen.
Wir waren alle todgeweiht.
»Haltet ihn unten«, befahl Sethon.
Obwohl Kygo sich nicht wehrte, fügte er sich seinen Bewachern auch nicht. Es brauchte alle drei Soldaten, um ihn in eine kniende Stellung zu zwingen. Zwei knieten neben ihm und hielten seine ausgestreckten Arme an ihre Brust gepresst; der Dritte kniete hinter ihm, auf seinen Waden. Ich sah, wie Kygos Augen sich vor Schmerz weiteten, als der Soldat sich mit seinem ganzen Gewicht auf Kygos Unterschenkel setzte.
Sethon stand am Rand des Podests und hielt eines von Kinras Schwertern in der Hand; das andere steckte noch in der Scheide und hing auf der anderen Seite des Throns. Quälend nah. Doch solange meine Hände mit der Perlenschnur gefesselt waren, hätte es genauso gut tausend Schritt weit weg sein können.
Sethon zeigte mit dem Schwert, das er in der Hand hielt, auf die Soldaten unter uns. Die Sonne, die tief am Himmel hinter ihm stand, warf den Schatten seiner triumphierenden Gestalt auf die Gefangenen. Tausende Stimmen erhoben sich zu einem Jubel und schrien und pfiffen so laut, dass die Aasvögel erschrocken und unter krächzendem Protest aufflatterten.
Sethon lächelte, während das schrille Duett der Menschen und der Vögel langsam verebbte. »Die Kaiserliche Perle ist mein!«, schrie er und seine tiefe Stimme übertönte die letzten Rufe. Er wies mit der geschwungenen Klinge auf Kygo. »Der Widerstand ist ein für alle Mal besiegt.«
Die Männer jubelten erneut. Gemessenen Schrittes stieg Sethon vom Podest und ging über die Plattform zu Tozay.
»Wir haben ihren General!« Tozay erbleichte nicht, als die Schwertspitze nur eine Fingerlänge vor seinem Gesicht innehielt. Erregte Anfeuerungsrufe drangen von unten herauf. Sethon wartete, bis die Unruhe sich gelegt hatte, und ging dann zu Ryko. »Den Insulaner-Spion.« Wieder wartete er, bis der Lärm verebbte. Mit drei Schritten war er bei Dela. »Und diese groteske Gestalt, den Contraire aus dem Osten.« Dela zuckte zusammen, während er sich der Menge zuwandte und erneut das Schwert hob.
Das antwortende Gebrüll wurde immer lauter und formte sich zu dem Ruf: »Töten! Töten! Töten!«
»Majestät«, rief ein Jäger durch die sich steigernde Raserei.
Sethon fuhr herum. »Was ist?«
Der Mann beugte das Knie und verneigte sich. »Lord Ido kommt zu sich. Wünscht Ihr, dass ich ihn zurück in die Schattenwelt schicke?«
»Ruhe!«, brüllte Sethon in die Menge. »Ruhe!« Die skandierenden Rufe erstarben bis auf ein paar schrille Schreie.
Ich beugte mich vor. Ido atmete jetzt tiefer und seine Augen bewegten sich unter den Lidern, als wenn er träumte. Wacht auf, drängte ich ihn im Stillen. Wacht
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