EONA - Das letzte Drachenauge
Schwerter sinken. Vorsichtig tat ich es ihm nach. Schweigend und wachsam standen wir einander gegenüber und hielten die Schwerter gezückt, falls der seltsame Waffenstillstand bräche.
»Was meint Ihr, warum Sethon mich lebend haben will?«, fragte ich.
»Weil Ihr ein Lord seid.«
»Nein. Er will meine Drachenmacht zum Kriegführen nutzen.«
Haddo musterte mich. »Das ist verboten. Ihr lügt.«
»Sethon ist es, der lügt.«
Haddo warf dem Kaiser – dem lebenden Beweis für Sethons Lügen – abermals einen raschen Blick zu. Dann sah ich, wie er hinter mir etwas ins Auge fasste.
»Eona!« Das war Delas Stimme.
Ich wagte einen Blick über die Schulter. Dela ging um den Kaiser und um Ryko herum. »Eona, haltet ihn auf! Er wird Ryko töten.«
Kygos Raserei galt nun dem Insulaner. Zwar wehrte Ryko die Angriffe des Kaisers tapfer ab, doch er griff ihn nicht an. Weder er noch Dela würden das Schwert gegen ihren Herrn erheben. Ringsum lagen Tote und Verwundete am Boden. Ein rascher Blick zeigte, dass nur noch Rykos Hauptmann und ein weiterer Gardist gegen eine Handvoll Soldaten kämpften. Haddos Männer waren fast alle bezwungen.
»Eona?«, wiederholte Haddo. »Ihr seid tatsächlich eine Frau? Ein weibliches Drachenauge?« Ich sah die Bestürzung in seinen geweiteten Augen. Er berührte das Blutamulett an seinem Hals.
»Dela, übernehmt hier«, befahl ich und wich von dem Leutnant zurück. Er starrte mich verwirrt an, bis sie ihn angriff und dabei einen Kampfruf ausstieß.
Ich fuhr herum und spürte, dass Kinra die Lage beurteilte. Ryko wich bei jedem Schlag, den der Kaiser gegen seine Schwerter führte, ein Stück von Kygo zurück und versicherte ihm dabei immer wieder lautstark seine Ergebenheit, doch der junge Kaiser setzte ihm immer weiter zu. Sein Gesicht war tiefrot vor Zorn und Anstrengung, und die mit Wut geführten Schwerter fanden ihr Ziel nur dank jahrelanger unermüdlicher Übung. Kinras Aufmerksamkeit richtete sich erneut auf die Perle. Er hat sie nicht verdient . Ich überging ihren verräterischen Gedanken.
»Ryko, aus dem Weg«, brüllte ich.
Er duckte sich unter den sirrend durch die Luft fahrenden Klingen des Kaisers hindurch.
»Er weiß nicht, wer wir sind«, keuchte er. »Ich kann ihn nicht zur Vernunft bringen.«
»Majestät«, rief ich. »Ich bin Eona.« Der Blick des Kaisers schweifte über mich hin, doch er zeigte kein Wiedererkennen, nur das Fieber des Wahns. Er hob die Schwerter. Ich war eine Närrin: Meinen wahren Namen kannte er ja gar nicht.
Ich versuchte es erneut. »Majestät, ich bin Lord Eon. Euer Verbündeter.«
Kinras Reflexe bewahrten mich vor Kygos Streich, der mir das Gesicht aufschlitzen sollte, und vor einem tückischen halbhohen Hieb. Ich sprang zurück und landete weich auf einem Körper auf dem Boden. Ein krampfartiges Zucken durchlief ihn; der Mann unter mir war nicht tot, er brüllte vor Schmerz und zerkratzte mir die Beine. Blankes Entsetzen trieb mich herunter von dem blutigen Rumpf. Der Schreck schwächte meine Kontrolle über Kinra. Ihre Absicht durchströmte mich wie Wasser, das durch einen Deich bricht, und wütender Ehrgeiz löschte meine Angst und mein Mitleid aus.
Sie schwang die Schwerter und ich spürte, dass sie nicht Kygos Befreiung, sondern seinen Tod sangen. Verzweifelt versuchte ich, die Kontrolle zurückzuerlangen, doch Kinra behauptete sich und zielte auf die Brust des Kaisers. Heftige Hiebe krachten gegen Kygos Klingen. Stahl glitt kreischend über Stahl. Ich biss die Zähne zusammen, entwand ihr die Schwerter und widersetzte mich Kinras Gier, sie dem Kaiser ins Herz zu stoßen.
Etwas flackerte auf in seinen glasigen Augen. War es Angst? Oder Wiedererkennen?
»Majestät!« Ich suchte nach etwas, das ihn in die Wirklichkeit zurückbringen könnte. »Kygo! Wir haben einen Pakt: gegenseitige Überlebenshilfe!« Doch das Summen in meinem Kopf schrie nach seiner Vernichtung.
Er stürzte los und schwang die Schwerter dabei zu einer von oben geführten Ziegendrachen-Attacke. Kinras Erfahrung wehrte seinen heftigen Ansturm ab, und ihre geschmeidige Abwehrbewegung brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Bevor ich zurückweichen konnte, riss sie das Heft des Schwerts nach oben. Der schlimme Hieb erwischte Kygo an der Stirn. Er taumelte rückwärts und stolperte über die Beine eines Toten.
Nimm die Perle!
Dieser Befehl trieb mich über die toten Körper hinweg zum Kaiser. Ich sah allein die an seinen Hals genähte Perle, die nur einen Schwerthieb
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