EONA - Das letzte Drachenauge
weg.
Der Kaiser erhob sich. Seine zusammengepressten Kiefer zeigten, wie viel Kraft es ihn kostete, die Müdigkeit und den Schrecken zu überwinden. »Hauptmann Yuso, ich lehne das Angebot ab. Euer Tod ist mir anderswo von Nutzen.«
Ich hörte das Rituelle in ihren Worten: Beide Männer nahmen Zuflucht zu ehrerbietigen Floskeln.
Yuso verneigte sich. »Mein Leben gehört Euch, Himmlischer Meister.« Er hockte sich auf die Fersen. »Doch es wäre sinnloser Selbstmord, hier noch länger zu bleiben, Hoheit«, fügte er mit grimmigem Lächeln hinzu. »Meine Männer haben alle Soldaten der Patrouille zu fassen versucht, doch falls ihnen auch nur einer entkommen ist, trifft bald Verstärkung ein. Ich schlage vor, dass wir aufräumen und dann abziehen.«
Der Kaiser ließ den Blick durch den Hof schweifen. »Ein guter Rat.«
Yusos Miene bekam etwas bedachtsam Unbeteiligtes. »Hoheit, wir können es uns nicht leisten, Gefangene zu machen« – er sah auf einen seiner Leute am Boden – »oder uns um die Verwundeten zu kümmern, die nicht mehr in der Lage sind, zu reiten.«
Ryko straffte sich, als wollte er protestieren. Der andere kaiserliche Gardist, der das Scharmützel überlebt hatte, warf dem Insulaner einen unsicheren Blick zu und sah wieder seinen Hauptmann an.
Neben mir holte der Kaiser vernehmlich Luft. »Ist das wirklich nötig, Yuso?«
Der Hauptmann nickte nur knapp.
»Das sehe ich anders«, sagte Ryko und sank auf die Knie. »Vergebt mir meine Offenheit, Majestät, aber ich denke –«
Des Kaisers erhobene Hand brachte ihn zum Verstummen. Die Sonne ließ das Gold eines schweren Rings an seinem Zeigefinger aufblitzen, während er Yuso betrachtete. »Nennt mir Eure Gründe, Hauptmann.«
»Je weniger Information Großlord Sethon bekommt, desto besser«, erwiderte Yuso. »Wir haben nur wenige Vorteile: Sie wissen nicht, wie viele wir sind und wohin wir marschieren. Überdies halten unsere Feinde Lady Drachenauge noch immer für Lord Eon. Lassen wir aber auch nur einen Menschen hier lebend zurück, wird der Großlord alles erfahren, ob aus Ergebenheit oder unter der Folter.«
Bisher hatte ich nicht ganz begriffen, wovon sie sprachen. Nun wurde es mir qualvoll klar: Yuso wollte alle töten, die hier noch lebten, ob Freund oder Feind. Ich fand keine Worte für diese Grausamkeit.
»Ryko?«, fragte der Kaiser auffordernd. In seiner Stimme lag ein schwaches Flehen.
»Was Hauptmann Yuso sagt, ist richtig«, antwortete Ryko widerstrebend. »Aber es ist nicht … es erscheint mir nicht ehrenhaft, Majestät.«
»Vielleicht warst du zu lange im Harem, Ryko«, sagte Yuso.
Die Miene des Kaisers verhärtete sich. Kygo hatte mir einmal gestanden, er fürchte, seine Kindheit im Harem habe ihn zu weich gemacht. Zu weiblich. Falls Yuso das wusste, spielte er ein raffiniertes Spiel, denn sein auf Ryko abgeschossener Pfeil hatte sein eigentliches Ziel getroffen.
Als wäre nichts geschehen, gab der Kaiser jemandem hinter mir ein Zeichen. »Seid Ihr das, Lady Dela?« Ich drehte mich um und sah, wie Dela sich tief verbeugte. »Führt Lady Drachenauge vom Kampfplatz und bereitet alles vor für unsere Abreise.« Der Kaiser sah zum rosa gestreiften Morgenhimmel auf. »Wir brechen in einer Viertelstunde auf.«
»Nein!«, sagte ich. »Majestät, Ihr könnt doch nicht annehmen –«
»Lady Drachenauge!«, sagte er schroff. Die Erschöpfung hatte die letzte jugendliche Glätte aus seinen Zügen vertrieben. Kygo hatte nun das Gesicht eines Mannes, müde und tief betrübt. »Geht.« Er entließ Lady Dela mit einem Nicken.
Sie nahm meine Hand und zog mich hoch. Ich sah ihr in die Augen, um mich ihrer Unterstützung zu versichern, doch sie schüttelte fast unmerklich den Kopf.
»Wo sind Eure Schwerter?«
Meine Schwerter: Einen verrückten Moment lang wollte ich sie aufheben und spüren, wie Kinras Kraft unter meine Haut und in mein Herz glitt. Sie würde den Kaiser aufhalten. Doch ich vertrieb diesen Gedanken aus meinem Kopf: Nein, sie würde ihn töten.
»Die bringe ich mit«, erwiderte Ryko knapp.
Dela verstärkte ihren Griff und führte mich über den Hof. Vor uns auf dem Boden lag eine zitternde Gestalt. Ich hörte ein schwaches Stöhnen.
»Werden sie wirklich …?« Ich konnte den Satz nicht beenden.
Dela führte mich an dem stöhnenden Soldaten vorbei. »Ich weiß es nicht. Wir kämpfen jetzt um unser Leben, Eona.«
»Ich könnte versuchen, die Verletzten zu heilen.«
»Habt Ihr denn einen Weg gefunden, Eure Macht
Weitere Kostenlose Bücher