EONA - Das letzte Drachenauge
unter Kontrolle zu halten?«, fragte sie.
»Nein.«
»Dann könnt Ihr auch nicht helfen.«
»Aber das stimmt nicht.« Ich zerrte an ihrer Hand.
Sie zog mich mit einem Ruck zu sich heran und zwang mich, mit ihrem schnellen Schritt mitzuhalten. »Sie wollen nicht, dass die Frauen sie an das Leben erinnern und an das Mitleid, wenn sie sich auf Krieg und Grausamkeit einstellen müssen.«
Ich dachte an Kinra: Nicht allen Frauen ging es um das Leben und um Mitleid. Und wie war es bei mir? Ich wusste kaum, wie es war, eine Frau zu sein, und nach dem Gemetzel im Dorf war ich gewiss kein Symbol des Lebens. Doch immerhin wollte Yuso uns dazu bringen, zu morden. Und der Kaiser ließ es zu. Ich ballte die Fäuste.
Dela schob mich durch den roten Türvorhang in die Herberge. Die Wandlampe flackerte und die Diele lag in schattenhaftem Zwielicht. Ich bemühte mich zu hören, was im Hof vor sich ging. Einerseits fürchtete ich mich vor den Geräuschen, die zu uns in den stickigen Gang dringen mochten, andererseits wusste ich, dass ich lauschen musste. Bisher war noch nichts durch die Wände gedrungen außer erstem Vogelzwitschern und dem Muhen unserer Ochsen.
»Seid Ihr verletzt?« Sie drängte mich zur Treppe.
»Nur an der Hand.« Ich hielt sie hoch, damit Dela sie ansehen konnte.
Die Perlen, die das Buch an meinem Unterarm hielten, bewegten sich. Zum ersten Mal ängstigte mich ihre klickende Umarmung. Falls Kinras Schwerter auf den Tod des Kaisers geprägt waren, was mochte dann der Zweck ihres Tagebuchs sein? Vielleicht enthielt es ebenfalls Gan Hua – zerstörerische und doch aus Hua gewonnene Energie – und vielleicht zielte diese Energie ja auf den Kaiser. Ohne die Ausgewogenheit der gegensätzlichen positiven Energie Lin Hua konnte Gan Hua eine äußerst tödliche Kraft sein. Ich unterdrückte die aufkeimende Panik. Ich hatte meine ganze Hoffnung in das Tagebuch einer Verräterin gesetzt. Selbst wenn es tatsächlich die Geheimnisse meiner Drachenmacht barg, war es nutzlos; den Worten einer Frau, die ihren Kaiser hatte töten wollen und die ihren Hass durch fünf Jahrhunderte gesandt hatte, konnte man nicht trauen.
Ich durfte nicht ein Buch bei mir tragen, dessen Macht sich womöglich in mein Bewusstsein stahl, um es zu beherrschen, wie es mir mit den Schwertern ergangen war.
»Mylady?«
Wir drehten uns beide um. Vida stand an der Hintertür.
»Solly und ich haben einige Pferde der Gardisten eingefangen«, sagte sie. »Ich habe so viel wie möglich in den Satteltaschen verstaut.«
»Gut«, erwiderte Dela. »Wo ist unsere Kleidung? Lady Eona muss sich anziehen und verarztet werden.«
Und ich musste das Buch von meinem Arm entfernen – und aus meiner Nähe. Diese Entscheidung schnürte mir die Kehle zu, denn sie bedeutete einen großen Verlust. Das Buch war mir in den letzten Wochen ein ständiger Begleiter gewesen, ein Symbol von Hoffnung und Macht. Mir war, als hätte ein treuer Freund mich unversehens betrogen.
Vida winkte uns in den Stallhof. Dort roch es nach verängstigten Tieren, nach Körnerfutter und nach Dung: eine wahre Erleichterung nach dem Gestank von Blut und Gedärmen im großen Hof. Ich atmete bebend ein und hoffte, ich könnte mich von der Verzweiflung befreien, die mich zu übermannen drohte. Wenn ich dem Tagebuch nicht trauen konnte, wie sollte ich dann lernen, meine Macht zu beherrschen?
Vier Pferde waren an das Stallgeländer gebunden. Solly ging zwischen ihnen herum und beruhigte sie, indem er sie tätschelte und leise auf sie einsprach. Als er uns kommen sah, hob er die Hand und wir blieben stehen.
»Meine Damen.« Er neigte kurz den Kopf, doch statt seines üblichen Lächelns, das seine schadhaften Zähne entblößte, verzog er die Lippen nur zu einem schmalen Strich. »Haltet Euch von den Pferden fern. Sie sind für den Krieg ausgebildet und schlagen nach allem aus, was in Reichweite der Hinterläufe ist.«
Dela führte mich Richtung Stall. »Geht mit Vida. Lasst Euch den Arm verbinden«, sagte sie. »Und zieht Euch an. Aber nicht das Trauergewand, sondern etwas weniger Auffälliges.«
Mit großem Abstand zu den Pferden folgte ich Vida. Die Ochsen muhten, als wir an ihrer Box vorbeigingen. Vermutlich waren sie hungrig. Ich merkte, dass es mir ebenso erging, und ich verzog den Mund unwillkürlich zu einem spöttischen Lächeln. Mein Körper scherte sich weder um Verrat noch um Verzweiflung, ihm ging es nur um Essen und Ausruhen.
Vida blickte sich zu mir um. »Wie schlimm ist Eure
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