EONA - Das letzte Drachenauge
gewesen. Falls es mir nicht sofort gelänge, das Gan Hua zu stoppen, würde es mich vernichten.
Ich wehrte mich gegen die sengende Macht des Buches genauso wie gegen Kinras Schwerter, doch das bewirkte nicht das Geringste gegen seine unerbittlich glühende Kraft.
Vielleicht konnte Kinra diese alte Macht aufhalten. Ich traute zwar ihrem Einfluss nicht und wollte auch an ihren Verrat nicht rühren, doch immerhin hatte sie – wie die Schwerter bewiesen – die Stärke und die Fähigkeit gehabt, Hua in eine dunkle Macht zu verwandeln und diese Macht durch fünf Jahrhunderte zu schicken.
Ich trug ihre Totentafel noch in der Tasche, doch ich konnte nicht danach greifen. Ob es genügte, dass sie da waren? Ich flehte im Stillen: Kinra, lass nicht zu, dass das Buch seinen Wahnsinn weiter in mich einbrennt. Dann richtete ich ein Gebet an meine Vorfahren, die mir Kinras Drachenaugenmacht überliefert hatten: Sorgt dafür, dass Kinras Wahnsinn nicht auch mich verbrennt.
Wie als Antwort durchströmte mich eine Macht, floss als schmerzende Kälte wie Frost durch die ätzenden Worte und löschte das Brennen des Buches. Dann waren die Worte und die Kälte plötzlich verschwunden. Doch weder die Perlen noch Dillon lockerten ihren brutalen Griff.
»Such dir einen Drachen aus!«, rief Dillon abermals.
Ich schüttelte den Kopf und versuchte, den Nachklang der sengenden Worte loszuwerden.
»Such dir einen aus!« Sein Griff wurde so fest, als würde er mir gleich die Knochen brechen.
»Ich nehm den Büffel«, keuchte ich. Den zweiten Drachen – zwei Umdrehungen im Spiel. Sollte ich Kygo entdecken, konnte ich uns vielleicht in seine Richtung zerren.
»Ich nehm den Hahn«, rief Dillon. Zehn Umdrehungen.
Ich biss die Zähne zusammen und schwang mich mit ihm in die zwölf Umdrehungen hinein.
»Eins«, schrie er. Alles war nur ein verschwommenes Graugrün mit Dillons bleich grinsendem Gesicht als einzigem festen Punkt.
»Zwei.« Sein Gewicht zerrte an meinen Fingern und riss mich in ein spritzendes Taumeln.
»Drei.« Seine Stimme veränderte sich: kein verspielter Singsang mehr, sondern klarer Befehlston. Ich schloss die Augen wegen des unerbittlichen Regens und wegen der Übelkeit, die das rasche Herumwirbeln mir bereitete.
»Vier.«
Bei jeder Umdrehung sanken wir tiefer im Schlamm ein und kamen der Elementargewalt der Erde näher. Ich hörte, wie er weitermurmelte, doch der Klang und die Bedeutung der Worte gingen im ohrenbetäubenden Prasseln des Regens unter. Das Drachenauge in mir jedoch wusste, dass es sich um dieselben alten Worte handelte, die meinen Verstand angegriffen hatten.
Dillon rief dunkle Energie an. Sie war eingebettet in den tiefen Nachhall der Zahlen und in seinen fiebrigen Singsang. Vier war die Zahl des Todes und ich spürte ihn mit der hämmernden Gewissheit meines Herzschlags kommen.
»Eona!« Das war Kygos Stimme. Ich öffnete die Augen. Seine groß gewachsene Gestalt schoss vorbei.
Ich fiel im Schlamm auf die Knie und stemmte mich mit aller Macht gegen Dillons Griff, doch seine grausame Stärke riss mich zurück in stolpernde Unterwerfung. Macht lief kribbelnd über unsere aneinandergefesselten Hände.
»Fünf«, schrie er.
»Dillon, was soll das?«, brüllte ich zurück.
»Mit dir zusammen bin ich stark genug«, kreischte er.
Stark genug wofür?
Plötzlich ging der Regen schräg nieder, da ein Sturm aus Nordwest mächtige Böen sandte. Erneut schoss Kygo, der sich mit gezückten Schwertern gegen die brutale Wucht des Windes stemmte, an mir vorbei. Ich wollte seinen Namen rufen, doch Wasser drang mir in Mund und Augen.
»Sechs.«
Ich schüttelte den Kopf, um wieder sehen und atmen zu können. Eine Schliere aus dunklen Gestalten verdichtete sich zu einer Horde heranstürmender Soldaten, deren Schlachtrufe der brausende Wind und der Schwung unserer Drehungen in ein abgehacktes Heulen verwandelten.
»Dillon, die Soldaten!«, schrie ich
»Sieben!«
Seine Augen waren geschlossen, sein Kopf in den Nacken gelegt. Sein dröhnender Singsang steigerte sich zu einer schrillen Totenklage, die genauso laut war wie das Heulen des Windes. Ich spürte die alte Macht darin. Mein Mund wurde so trocken, wie wenn man eine unreife Pflaume isst, doch es lag noch etwas anderes in dieser Bitterkeit. Ein vertrauter süßer Geruch nach Zimt – das Aroma der Macht des roten Drachen. Rief Dillon meinen Drachen? Das war unmöglich, doch ich spürte auch noch den schwachen Duft nach Vanille und nach Orange. Lord Idos
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