EONA - Das letzte Drachenauge
auch mich ruckartig zum Stehen. »Schau mal, was ich kann.« Lachend warf er den Kopf in den Nacken.
Der Regen strömte noch immer aus den schweren Wolken, aber nicht zur Erde, sondern waagrecht in einen Ring, der über dem Tal schwebte wie ein riesiger Strudel, der sich um uns drehte wie ein donnernder, vier Häuser hoher Sturzbach und Bäume und Büsche in seinen Wirbel riss. Wir alle – Freund wie Feind – waren in der Mitte des Strudels gefangen und diese Mitte schrumpfte, während der Strudel durch die Kiefern wühlte und sie in seine anschwellenden Tiefen riss.
»Dillon, treib ihn zurück«, brüllte ich. »Treib ihn zurück!«
Ein schrilles Wiehern drang durch das dröhnende Rauschen: Ein Pferd brach nahe bei dem Strudel aus dem Dickicht und zerrte Solly an den Zügeln hinter sich her.
»Solly, lass los«, schrie Vida, die mit Dela die beiden anderen Pferde aus dem Wald zog. »Lass los!«
Der untersetzte Mann ließ die Zügel schießen, rollte sich zu einer Kugel zusammen und entging ganz knapp den trampelnden Hufen. Die Augen verdreht, sodass nur das Weiße zu sehen war, galoppierte das Pferd an uns vorbei auf Ryko und die Soldaten zu. Die vier Männer standen immer noch da und starrten auf den Strudel und auf die Trümmer, während die stampfenden Hufe des Pferdes in dem ohrenbetäubenden Donnern untergingen.
»Ryko, weg da !«, rief Kygo, doch er war zu weit entfernt.
Das Pferd pflügte mitten durch die Gruppe und stampfte über Ryko und einen schreienden Soldaten hinweg. Der Schreck nahm mir kurz den Atem; dann bewegte sich der Insulaner und rollte sich von dem rasenden Tier weg. Etwas weiter entfernt fegte der Strudel ein Stück bewaldeten Hang unter explosionsartigem Krachen und Bersten davon.
Als Dillon sah, was er angerichtet hatte, wich seine Freude und er wurde plötzlich blass. »Das ist zu groß.« Ein feiner, kalter Sprühregen benetzte mein Gesicht und Dillons Haar. Der Junge ließ meine Hand los, die nicht an ihn gefesselt war, und rieb sich die Stirn. »Das tut weh«, keuchte er. »Soll das wehtun?«
»Gib mir das Buch.« Ich zerrte an unserer Perlenfessel. »Lass dir von mir helfen.«
»Nein!« Er stieß mich gegen die Brust und schob mich einen Schritt nach hinten. »Du willst nur meine Macht. Genau wie mein Herr.« Er bleckte die Zähne und lächelte böse. »Hörst du ihn? Er schreit.«
Ich packte ihn vorn an seinem Hemd. »Dillon, du darfst Ido nicht töten. Wenn er stirbt, sterben wir auch.« Ich schüttelte ihn. »Verstehst du? Wir müssen ihn retten!«
»Ihn retten?«, stieß Dillon hervor. »Ich werde ihn töten. Bevor er mich tötet.«
Seine gelblichen Augen traten aus den Höhlen vor Hass. Er würde Ido niemals retten. Und mir niemals helfen. Ich spürte, wie das dröhnende Wasser ringsum schwächer wurde und der feine Dunst sich zu Tropfen sammelte, die mein Gesicht mit unheilvoller Wucht trafen. Dillon verlor die Kontrolle.
Ich hatte nur eine Chance, das Buch an mich zu bringen, bevor er uns alle tötete. Aber er war in jeder Hinsicht stärker als ich. Was also blieb mir anderes übrig?
Verzweifelt holte ich Luft, rammte ihm die Stirn ins Gesicht und riss vor Schmerz den Kopf wieder zurück. Aufheulend wich Dillon zurück und zog mich mit. Trotz meiner Tränen versuchte ich, an das Buch heranzukommen, kratzte mit den Nägeln über den geprägten Ledereinband und zwängte die Finger unter die Perlen. Beim ersten Zerren lockerte sich der gespannte Widerstand der Schnur, beim zweiten hob sich die Hälfte der Perlen. Einmal noch, und das Buch wäre mein.
Ich zerrte daran, doch statt nachzugeben, zogen die Perlen sich wieder stramm und klemmten meine Hand am Ledereinband fest. Dillon richtete sich auf. Blut strömte aus einer Platzwunde über seinem Auge. Ich kämpfte wie wahnsinnig, um meine Finger freizubekommen, doch die Perlen gaben nicht nach. Nun waren meine beiden Hände an das Buch gebunden, das wiederum an Dillon gebunden war. Er holte mit der Faust aus und ich konnte nirgendwohin ausweichen. Sein brutaler Schwinger traf mich in den Magen und schnitt mir die Luft ab. Ich krümmte mich zusammen und konnte nicht mehr atmen.
Ich hatte die Gelegenheit verpasst, an das Buch heranzukommen.
Die Perlen schlossen sich nun so fest um meine Finger, dass der brennende Druck sich in meinen Arm fortpflanzte. Eine Hitzewelle überkam mich, entspannte meine Brustmuskeln, sodass ich keuchend Luft holen konnte. Galle stieg mir in die Kehle, während leise Worte sich durch
Weitere Kostenlose Bücher