EONA - Das letzte Drachenauge
»Das könnt Ihr wohl nicht verhindern mit der Macht, von der ich gerade eine Kostprobe bekommen habe?«
»Es war nicht meine Macht«, erwiderte ich und suchte die verwüstete Landschaft nach etwas ab, das ich ihm zuwerfen konnte. Doch alles lag unter einer braunen Schlammschicht begraben. Mein Blick glitt über das tote Pferd und den toten Soldaten und sprang dann zurück. Das Ji.
»Dann war es also allein die Macht des Jungen?« Yuso sprach leise, aber rasch, um die Angst mit Worten in Schach zu halten.
»Nein, es war das schwarze Buch«, gab ich zurück. »Es hat uns zusammengebunden.«
Ich spürte einen Nachhall seiner brennenden Macht im Kopf. Ohne Kinra hätte ich diesen Ansturm nicht überlebt. Mir stockte der Atem: Hatte ich ihre Tafel noch? Ich fuhr mit der Hand in die schlammige Tasche meines Gewands. Der Beutel war noch da.
Vorsichtig schob ich mich durch den Schlamm zu dem toten Soldaten und vergewisserte mich bei jedem Schritt, ob ich nicht zu tief einsank. Was, wenn er doch noch nicht tot war? Oder wenn er ein Halbo geworden war, ein Dämon der Ertrunkenen? Argwöhnisch bückte ich mich zu ihm hinunter, doch er regte sich nicht und klapperte auch nicht mit den Zähnen.
»Dann ist die Bindung also echt.« Yusos Stimme brach unvermittelt ab. Ich fuhr herum, weil ich schon fürchtete, er wäre versunken, doch Kopf und Schultern schauten immer noch aus dem Matsch heraus. »Was macht Ihr da?«, flüsterte er.
»Ich hole dieses Ji, um Euch herauszuziehen.«
»Nein, das ist zu gefährlich. Lasst mich. Ihr habt noch Zeit, Euch in Sicherheit zu bringen.«
Ich packte den Schaft und zog den Speer aus der Hand des Soldaten. Die Rechte des Toten hob sich und klatschte wieder in den Matsch, als hätte er mich gesegnet. Schaudernd flüsterte ich ein rasches Gebet für ihn an Shola und ging vorsichtig in meinen Fußspuren zu Yuso zurück.
Der Hauptmann beobachtete mich und die Angst war ihm in tiefen Schlammfürchen ins schmale Gesicht geschrieben. Hastig streckte ich ihm die Stange über den Morast hin, bis der Griff in seiner Nähe schwebte.
»Haltet Euch fest. Schnell.«
Ich sah kurz zu dem dünnflüssigen Matsch hinauf, der hinter ihm niederging wie ein Wasserfall und in das Loch fiel und den Schlamm immer höher steigen ließ.
Er griff nach dem bebenden Holz. »Ich bin bestimmt zu schwer für Euch.«
»Ich bin stark«, versicherte ich ihm, obwohl auch mich dieser Zweifel kalt angeweht hatte. Für einen Schattenmann war er sehr schlank – das Sonnenpulver, das der Eunuchengarde verabreicht wurde, sorgte normalerweise für einen massigeren Körperbau –, aber er war doch groß und sehr muskulös. »Keine Sorge«, fügte ich hinzu. »Ich lasse Euch nicht allein.«
Er zuckte zusammen, als ein dicker Ast neben ihm herunterplatschte und sein Gesicht mit weiterem Schlamm bespritzte. Ich prüfte den Boden mit den Zehen, fand eine Stelle, die nicht zu weich war, grub die Fersen hinein und wischte ein Stück von der Stange sauber.
»Bereit?«, fragte ich.
Er nickte.
Ich atmete entschlossen ein, zog sein Gewicht am anderen Ende der Stange hoch und achtete darauf, die zu einem Haken gebogene Klinge von mir weg zu halten. Ich spürte eine kleine Gewichtsver-lagerung, ich zog und zog und bewegte mich ganz langsam rückwärts durch den Schlamm. Plötzlich kam sein zweiter, vor Schlamm triefender Arm frei und er packte die Stange mit beiden Händen.
»Macht weiter«, drängte er.
Ich grub die Fersen erneut in den Schlamm und zog, während Yuso vorsichtig eine Hand über die andere legte und mich dabei keuchend anlächelte. Ich lächelte zurück – es klappte. Auf sein Nicken hin zog ich erneut und er schob sich wieder eine Handbreit näher zum Rand des Lochs. Jeder Muskel in meinen Armen und am Rücken brannte von der Anstrengung, sein Gewicht zu halten, doch mit der Brust war er schon fast aus dem Loch.
Er hob abermals die Hand, doch diesmal griff er zu weit und rutschte ab. Dadurch fehlte plötzlich sein Gewicht und mit der hochschnellenden Stange riss es mich auf die Knie. Er rutschte nach hinten und kämpfte wie wild um Halt. Instinktiv stemmte ich mich mit den Knien und den Zehen in den Schlamm, um das Ji an Ort und Stelle zu halten. Seine Hand bekam die Stange wieder zu fassen.
»Habt Ihr sie?«, keuchte ich.
»Ja.« Er drückte die Stirn in die Armbeuge und holte mehrmals tief Luft. »Wie sieht es da oben an der Kante aus?«, fragte er schließlich.
»Nicht so gut«, erwiderte ich. »Seid Ihr so
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