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Epicordia

Epicordia

Titel: Epicordia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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Junge auf Leben und Tod mit einer wilden
Straßenkatze rang.
    Hätte Lara in dieser Erinnerung weinen können, hätte
sie es getan. Doch sie war unerbittlich. Wie ein Film, den man gezwungen war
anzusehen, ohne sich dagegen wehren zu können.
    Schließlich endete der Kampf.
    Die Katze lag verdreht auf dem Gehweg, erschlagen von
einem erschütterten Kind, das nun neben dem toten Tier saß. Selbst blutend und
weinend. Herzzerreißend schluchzte der Junge. Für den Ball interessierte er
sich schon lange nicht mehr. Zusammengekrümmt legte er sich auf den Beton des
Gehwegs und wimmerte leise. Weinen würde ihm nicht helfen – es würde nur denjenigen
den Weg weisen, die ihn bald finden würden.
    Vereinzelt gingen Lichter in den Häusern um sie herum
an.

    Die Szenerie war eine andere geworden. Doch
Nacht war es immer noch.
    Dies musste eine andere
Erinnerung sein – natürlich, es sollten ja mehrere sein,
hatte Lee gesagt. Diesmal befand sie sich in der Küche einer Wohnung mit
blassen Wänden. Glühbirnen und eine Neonlampe erhellten die Räumlichkeiten.
Kurz zuvor war hier gekocht worden, die benutzten Gerätschaften sowie
Schneidbrettchen zeugten davon. Die Dunstabzugshaube lief noch auf vollen
Touren. Die Wände waren teils mit Teppichen behangen und in den Regalen standen
exotische Gewürzdosen.
    Von der Küche ging es hinaus auf den Balkon, die Tür
stand offen. Und von dort strömte auch Licht hinein in den Raum. Ein junger
Mann, vielleicht ein paar Jahre älter nur als Lara, saß dort, lachte und
scherzte mit einer wunderhübschen Frau. Sie hatte ein scharf geschnittenes
Gesicht und schwarze Haare, die lang waren und in kleinen Korkenzieherlocken
auf ihre Schultern fielen. Um diese Haare musste jede Frau auf der ganzen Welt
sie beneiden! Ihre Augen strahlten, während sie mit schönen, vollen Lippen und
strahlend weißen Zähnen über etwas lachte, das ihr Gegenüber soeben gesagt
hatte. Lara hatte nicht hingehört.
    Â»Warte«, sagte der Mann schließlich. »Es gibt ja noch
eine Nachspeise.«
    Mit diesen Worten stand er auf, drehte sich um – und Lara erkannte sein Gesicht wieder.
    Es war nicht nur das Gesicht des kleinen Jungen, der
bis aufs Letzte mit der Straßenkatze gekämpft hatte. Nein. Dieser junge Mann
war derjenige, den sie vor Jahren unter dem Namen Ma’Haraz kennengelernt hatte.
Die Korkenzieherlocken an den Seiten waren fort und sein rechter Arm war über
und über verziert mit Tattoos – wohl, um die Narben von seinem Kampf mit der
Katze zu verdecken.
    Doch dieser Ma’Haraz war alles, was derjenige, den
Lara kennengelernt hatte, nicht war. Er trug keine schwarze, mit Kinkerlitzchen
behängte Kleidung. Nein, er trug weite, helle Hosen und ein kariertes Hemd, das
im offenbar warmen Wind flatterte, während er in die Küche ging und den
Nachtisch aus dem Kühlschrank holte. Selbst gemachtes Tiramisu. Nur für seine
Freundin – oder gar Frau?
    Er hörte ein Geräusch vom Balkon, ging zurück, um
nachzusehen, und ließ vor Schreck das Tiramisu fallen. Schnell stürzte er zu
der Frau, versuchte sie zu wecken. Vergebens. Panisch rannte er zurück in die
Wohnung, auf der Suche nach einem Telefon.
    Lara betrachtete die Frau, wie sie dort lag. Sie war
einfach umgefallen. Einfach so, wie das Leben eben manchmal ein Verräter war.
Und in den bittersten Augenblicken und Stunden gleich doppelt – denn sie war
schwanger. Es war nun deutlich zu erkennen für Lara, während sie von drinnen
Ma’Haraz hektisch telefonieren hörte. Er redete Englisch.

    Lara verstand – sie waren mittlerweile in
den Vereinigten Staaten.
    Die Erinnerung hatte erneut gewechselt – doch diesmal
war der Zeitsprung nicht so enorm.
    Sie befand sich im Wartezimmer eines Krankenhauses. Krankenhausgrün strahlte deprimierend von allen
Seiten auf die Gestalt, die dort auf einem der Stühle in einer langen
Reihe von Sitzgelegenheiten kauerte. Allein. Außer ihm war niemand da.
    Wieder Ma’Haraz. Er trug dieselben Kleider, es war
noch derselbe Abend.
    Eigenartig, dachte Lara,
während sie ihn genauer in Augenschein nahm. Wie nah einem die Menschen doch
kamen, wenn sie in den eigenen Augen auch zu solchen wurden. Denn wurden
Menschen nicht dadurch menschlich, dass sie dieselben Höllen durchlebten und
mit denselben Monstern kämpften? War es nicht das Leiden, das alle

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