Epsilon
war beschädigt. Die Kabine war einige Zeit nicht mehr gesäubert worden, und der Boden war mit schmierigem Verpackungspapier und weggeworfenen Plastikbechern übersät. Ika hatte Susan, bevor sie an Bord gingen, dringend geraten, noch einmal die Toiletten in der Lounge zu benutzen, denn sie wünschte keinem menschlichen Wesen, jemals die Toiletten in einer Aeroflot-Maschine auf einem Inlandflug aufsuchen zu müssen. Dummerweise hatte Susan zu viel Kaffee getrunken, und nach etwa einer Stunde wurde der Drang übermächtig. Sie kehrte kreidebleich zu ihrem Sitz zurück; um die aufsteigende Übelkeit zu bekämpfen, musste sie eine Weile die Augen schließen und tief durchatmen.
Laut Reiseführer, den Susan sich in New York besorgt hatte, lebten in Norilsk etwa 170.000 Einwohner. Die Stadt war 1935 gegründet worden und lag im Rybnaja-Tal am Rande des Putorana-Plateaus, vierhundert Kilometer nördlich des Polarkreises. Sie gehörte zu den bedeutendsten Nickel- und Platin-Förderzentren der Welt. Auch Kupfer wurde dort abgebaut. Doch was die Stadt vor allem anderen auszeichnete, war ihr gigantischer Flughafen, der die einzige Verbindung nach Moskau und zum Rest der Zivilisation in einem Umkreis von zweitausend Kilometern darstellte.
So weit die Beschreibung auf dem Papier. Als Susan spürte, dass die Maschine an Höhe verlor, blickte sie aus dem Fenster und sah die Realität vor sich. Unter ihr lag eine flache Landschaft ohne besondere Kennzeichen, die sich bis zum Horizont erstreckte und im Wesentlichen aus nackter Erde oder Felsen bestand. Es gab keine Bäume, nur einige Ansammlungen graubrauner Vegetation, bei der es sich meist um Moose und Flechten handelte, wie Ika erklärte. Eine solche Ödnis, die geradezu unbewohnbar schien, hatte Susan noch nie gesehen, und sie fand es beinahe unglaublich, dass dort unten wirklich Menschen leben sollten. Sie konnte nur einen kurzen Blick auf Norilsk erhaschen, bevor sie auf der Landebahn aufsetzten: eine kalte, graue, nicht eben einladend wirkende Ansammlung von Gebäuden. Auf dem Rollfeld standen gut hundert Flugzeuge, von großen interkontinentalen Maschinen bis hin zu alten Kästen, die besser in einem Museum als in der Luft aufgehoben gewesen wären.
Ika hatte Susan bereits vorgewarnt, dass vor dem Ausstieg mit einer weiteren Verzögerung zu rechnen sei. Die übliche Erklärung lautete, dass zu viele Flüge gleichzeitig eintrafen und zu wenig Busse vorhanden waren, um die Passagiere zur Ankunftshalle zu transportieren. Und tatsächlich verharrten sie weitere fünfzig Minuten in ihren Sitzen, nachdem die Triebwerke schon längst abgeschaltet waren. Susan spürte, wie eine tiefe Trägheit sie überkam; sie war in sich versunken und abgestumpft gegen all den Arger und die Widrigkeiten, die sie unter normalen Umständen verrückt gemacht hätten. Vielleicht, so dachte sie, nahm sie dieses Gefühl durch eine Art Osmose von Ika und den anderen Russen in ihrer Nähe auf. Für diese bedeutete Zeit nicht das, was sie für einen Menschen aus dem Westen bedeutete. Dort war Zeit eine Art Ware mit messbarem Wert, hier nichts weiter als eine Abstraktion, etwas, das zu existieren aufhörte, wenn es nicht zu einem bestimmten Zweck gebraucht wurde.
Ika erklärte Susan, dass sie über Nacht in Norilsk bleiben würden, da erst am nächsten Tag ein Flug nach Ostjachon ging. Sie nahmen ein Taxi zum Hotel Arktika, wo Ika Zimmer reserviert hatte. Das Taxi stank so stark nach Diesel, dass Susan versuchte, das Fenster herunterzukurbeln, um etwas frische Luft hereinzulassen. Nach wenigen Zentimetern hatte es sich jedoch bereits verklemmt. Stoßdämpfer wären ein höchst willkommener Luxus gewesen, aber immerhin brachte das verbeulte Gefährt sie sicher ans Ziel.
Susans Zimmer war dagegen der pure Luxus, wie Ika ihr versicherte. Immerhin hatte es ein eigenes Bad. Überall war Marmor – sonst allerdings nicht viel. Die Hähne spuckten kochend heißes Wasser im Überschuss aus, dafür aber nur ein paar Tropfen kaltes. Das Bett war bretthart, immerhin jedoch intakt.
Sie nahmen ihr Abendessen in einem düsteren Speisesaal ein, der nur von einer kleinen Gruppe Russen bevölkert war, die am Nachbartisch kübelweise Wodka in sich hineinschütteten. Ika riet Susan, sich an Kohlsuppe und Würstchen zu halten und den Wein zu meiden. Sie gingen früh zu Bett, und Susan war froh, Schlaftabletten eingesteckt zu haben.
Ostjachon lag nur einhundertfünfzig Kilometer südlich von Norilsk, was Susan zu der
Weitere Kostenlose Bücher