Epsilon
Ostjachon erstreckte sich entlang des Nordufers des Chantajskoje-Sees, einem Gewässer, das etwa zweihundertvierzig Kilometer lang und zwischen drei und dreizehn Kilometern breit war. Aus der Luft hatte Susan die Fischkonservenfabrik am Ufer ausmachen können, die der eigentliche Grund für Johns Reise hierher gewesen war. Die Ortschaft selbst bestand aus einer zumindest von oben planlos wirkenden Ansammlung von Gebäuden in etwa fünfzehnhundert Metern Entfernung.
Das Erste, was sie beim Ausstieg aus der Maschine sahen, war ein halb verfallener Schuppen. Ika erklärte, es sei die Schule des Ortes. Der Jeep, den sie gemietet hatte, wartete bereits auf sie. Der Fahrer händigte ihnen die Schlüssel aus und schwang sich dann hinter seinen wartenden Freund aufs Motorrad. Der Jeep war ein Zweisitzer, und sie verstauten ihr Gepäck im Fond.
Ostjachon war, wie Ika auf der Fahrt in die Ortschaft erklärte, architektonisch gesehen ein gutes Beispiel für das staatliche Planmodell E3. Susan war sich nicht sicher, ob das ironisch oder wörtlich gemeint war. Der Großteil der Gebäude, dreistöckige Betonklötze, sah fast identisch aus. Sie waren durch ein Netz von Leitungsrohren miteinander verbunden, die Ika utilidor nannte, Leitungen für Wasser, Strom und Gas, die aufgrund des Dauerfrostes nicht unterirdisch verlegt werden konnten. Selbst in der heißesten Zeit des Jahres, sagte sie, wenn der Boden sich in ein Schlammfeld verwandelte, blieb die Erdschicht darunter hart wie Stein.
Die Monotonie wurde hier und da von einer alten isba durchbrochen, einer traditionellen Holzhütte mit reich verzierten Türen und Fenstern. Die meisten davon standen seltsam schief und krumm – eine Folge von Erdbewegungen, die wiederum eine Folge des Dauerfrostes waren. Das einzige architektonisch einigermaßen ausgefallene Bauwerk war der Volkspalast: ein weißer, griechischer Tempelbau, in dem ein paar zerbrochene Fensterscheiben durch Bretter von Coca-Cola-Lattenkisten ersetzt worden waren.
Susan war bereits vor dem Hotel in Ostjachon gewarnt worden: Im Vergleich dazu mochte das Hotel, in dem sie am Vortag übernachtet hatten, wie der Palast eines Zaren erscheinen. John hatte ihr am Telefon eine Beschreibung gegeben, als er dort abgestiegen war, also war Susan auf das Schlimmste vorbereitet. Worauf sie nicht vorbereitet war, war das unvermittelte und beunruhigende Gefühl des Dejá-vu, das einsetzte, sobald sie durch die Tür trat. Es dauerte eine Weile, bis sie erkannte, dass dies der Ort war, an dem das Polaroidfoto von Samples und John aufgenommen worden war. Sie musste es nicht einmal aus der Tasche ziehen, um einige Details wiederzuerkennen: eine Lampe mit einem verblassten blauen Schirm, ein abscheuliches Stillleben an einer der Wände (das, wie sie jetzt sah, ein Original war), darunter ein langes Sofa, bezogen mit kaffeebraunem Kunstleder.
Beim Abendessen zeigte Susan Ika das Foto zum ersten Mal und fragte sie, ob sie Dan Samples je getroffen habe. Weder das Gesicht noch der Name kamen Ika bekannt vor. Sie fragte, wer er sei. Susan wich der Frage aus und behauptete, sie wäre sich nicht sicher. Sie gab vor, John hätte ihr das Foto zusammen mit einigen anderen in einem Brief geschickt, den er kurz vor dem tragischen Unfall aufgegeben hatte, und aus rein sentimentalen Gründen würde sie nun gerne wissen, wer dieser Mann sei.
Mit Susans Einverständnis zeigte Ika dem Kellner, dem Barmann und dem Hotelportier das Foto, allerdings ohne Erfolg. Susan zuckte mit den Schultern, sagte, es wäre nicht wirklich wichtig, und steckte das Foto zurück in ihre Geldbörse.
Kurz nach neun ging sie hinauf auf ihr Zimmer. Sie hatte sich kaum ausgezogen und wollte gerade eine Schlaftablette nehmen, als jemand an die Tür klopfte. Es war Ika.
»Es tut mir leid. Ich hoffe, Sie waren noch nicht im Bett.«
»Nein, ich wollte mich gerade hinlegen.«
»Ich habe eben mit dem Nachtportier gesprochen, und er sagt, dass er den Mann, den Sie suchen, womöglich kennt. Er hatte etwas hier zurückgelassen, und nun will er wissen, was er damit machen soll.«
»Zurückgelassen? Was hat er zurückgelassen?«
»Irgendein Päckchen. Papiere.«
Fünf Minuten später stand Susan, vollständig bekleidet, zusammen mit Ika in dem winzigen, fensterlosen Büro hinter dem Empfangsschalter. Der Nachtportier war ein bleiches, übergewichtiges Individuum. Die verbrauchten Gesichtszüge und seine Kurzatmigkeit ließen ihn sehr viel älter erscheinen, als er war –
Weitere Kostenlose Bücher