Epsilon
»Patienten« hatte sich gebessert, dennoch erwartete man von ihr, dass sie in Bereitschaft blieb, für den Fall, dass ein neues, unerwartetes Problem auftauchte. Ein Vergleich kam ihr in den Sinn: das Bild von dem Esel, den man mit vorgehaltener Karotte lockte. Die Karotte, mit der man Susan lockte, nämlich das Versprechen, dass sie und Christopher, ganz zu schweigen von ihrem Vater, zu einem »normalen Leben« zurückkehren konnten, hing noch immer unmittelbar vor ihrer Nase, doch wer immer auch die Zügel in der Hand hielt, er hatte sich noch nicht dazu entschlossen, ihr die Belohnung zukommen zu lassen.
Falls dieser Fall überhaupt je eintreten würde. Susan wusste, dass sie sich auf einen Handel eingelassen hatte, zu dem es nur eine Alternative gab – eine Alternative, die ein viel zu großes Risiko barg. Im Augenblick konnte sie nichts anderes tun, als abwarten und sehen, wie das Spiel sich entwickelte.
Das Telefon klingelte. Es war West.
»Möchten Sie gerne mit Ihrem Sohn sprechen?«, fragte er.
»Natürlich«, fuhr sie ihn an. »Wo ist er?«
»In guten Händen«, erklärte West. »Ich versichere Ihnen, dass es ihm gut geht und er sich wohl fühlt. Warten Sie, ich stelle das Gespräch durch.«
Susan hörte, wie mehrere Verbindungen geschaltet wurden, Und dann war da plötzlich Christophers Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Mami?«
»Christopher?«
»Mami? Wo bist du? Wann kann ich nach Hause kommen?«
»Bald, mein Schatz, das verspreche ich. Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?«
»Ich glaub schon.« Er klang ein wenig verstimmt. »Sie haben gesagt, dass du mich hierher geschickt hast. Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Nein, natürlich nicht, Schatz. Du hast überhaupt nichts falsch gemacht.«
»Warum hast du mich dann hierher geschickt?«
Susan dachte schnell nach. Mit Sicherheit hörte jemand ihr Gespräch ab, vielleicht sogar West selbst.
»Es ging nicht anders, weil ich eine Weile weg sein werde. Ich werde aber so schnell wie möglich zurückkommen,«
»Warum musst du weg? Was tust du denn?«
»Später, Liebling, später. Ich werde dir alles erzählen, wenn ich zurück bin.«
»Warum kann ich nicht bei Ben bleiben?«
»Nun, ein paar Nächte wären okay, aber… weißt du, man kann nicht so lange bei anderen Leuten bleiben, auch wenn es Freunde sind. Ihr würdet anfangen, euch auf die Nerven zu gehen.«
»Warum kann Opa nicht kommen und auf mich aufpassen?«
»Er ist… ich fürchte, er hat keine Zeit. Er würde es sicher gerne tun, aber er kann nicht. Mach dir keine Sorgen, Schatz, es ist nicht für lange.«
Christopher schwieg, doch Susan ahnte, dass er noch nicht alles gesagt hatte, was er sagen wollte. Da war noch etwas, aber Christopher wusste nicht, wie er es ausdrücken sollte.
»Was ist los, Chris? Was geht dir durch den Kopf?«
Seine Stimme zitterte, als er sprach: »Mami, ich dachte, du wärst vielleicht tot.«
Susan spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte und ihr Tränen in die Augen schossen.
»Mir geht es ausgezeichnet, Liebling. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Alles wird wieder gut. Bald sind wir wieder zusammen.«
»Wirst du mich wieder anrufen?«
»Natürlich.«
»Sie haben hier Pferde, und sie sagen, ich kann reiten lernen.«
Diese Bemerkung überraschte sie. Vielleicht war es auch der veränderte Tonfall, die unerwartete Begeisterung, mit der sie vorgetragen worden war. Christopher hörte sich plötzlich an wie ein Kind, das aus dem Feriencamp anruft, zuerst traurig und voller Heimweh, um dann plötzlich den Wunsch zu äußern, länger als ursprünglich geplant zu bleiben.
»Das ist schön, Schatz. Wo bist du? Auf einer Ranch?«
»Ja, sie haben gesagt, du hast das so arrangiert.«
Wieder musste sie schnell nachdenken. Es war eine Lüge, die sie nicht als solche entlarven durfte.
»Natürlich habe ich das, mein Schatz. Ich weiß nur nicht, was für eine Art von Ranch… Ich war selbst noch nicht dort.«
»Sie ist irgendwie ganz nett. Und es gibt einen Hubschrauber.«
»Das klingt wunderbar, Christopher!«
Susan hörte im Hintergrund eine Tür schlagen und einen Hund bellen. Es kam ihr seltsam vertraut vor.
»Ist das Buzz?«
»Klar. Sie haben gesagt, ich darf ihn mitnehmen. Dem geht’s gut hier!«
»Das freut mich.«
Seltsamerweise war es die Mitteilung, dass Christopher seinen Hund bei sich hatte, die sie mehr als alles andere beruhigte. Es klickte in der Leitung, und dann war wieder Wests Stimme zu hören.
»Zeit, zum Ende zu
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