Epsilon
zwischen einem kalifornischen Cabernet und einem guten Bordeaux zu unterscheiden. Er würde nie ein Experte werden, aber er wusste genug, um sich nicht zu blamieren. Weinkellner brachten ihm angemessenen Respekt entgegen und wurden nicht hochnäsig, wenn er nach ihrem Rat bei einigen weniger bekannten Sorten und Jahrgängen fragte. In der Tat gefiel er sich in der Rolle des Mannes von Welt, eine Rolle, in die er überraschend problemlos geschlüpft war. Es amüsierte ihn, dass selbst stark begrenztes Wissen, wenn man es nur mit der nötigen Autorität und dem richtigen Maß an Understatement anbrachte, als hohe Kultiviertheit angesehen wurde.
Er und Lila genossen an diesem Abend ein ausgezeichnetes Dinner, unterhielten sich, erzählten sich Anekdoten und lachten. Dann gingen sie zurück in sein Apartment, wo der Abend noch amüsanter wurde. Gegen drei Uhr morgens erwachte Charlie schlaftrunken mit dem unbestimmten Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war. Er sah, dass Lila sich anzog. Sie sagte, dass sie sich bemüht hätte, ihn nicht zu wecken.
»Warum gehst du?«, fragte er und richtete sich auf die Ellbogen auf.
Sie zuckte die Schultern, als könne oder wolle sie nicht darüber reden. »Ich glaube, es ist einfach besser so«, erklärte sie.
»Stimmt etwas nicht?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nun, dann komm… komm zurück ins Bett.«
»Ich würde lieber gehen, wirklich.«
Er beobachtete, wie sie sich hastig weiter anzog. Sie wirkte distanziert und vermied es, ihm in die Augen zu sehen.
»Um Himmels willen, Lila, es ist drei Uhr morgens!«
»Mein Auto steht unten.«
Charlie schwang die Beine aus dem Bett, blieb aber auf der Kante sitzen. Er war verärgert, wollte es Lila aber nicht merken lassen. Das wäre sicher nicht die beste Art, die Situation zu meistern, entschied er.
»Rede mit mir. Was hast du auf dem Herzen?«
Keine Antwort.
»Lila?«
Sie schien einen Augenblick nachzudenken, dann sah sie ihm direkt in die Augen, als wolle sie ihm eine Art Ultimatum stellen. Nur dass es kein Ultimatum war; sie zählte lediglich Fakten auf:
»Charlie, ich bin aus dem gleichen Grund hier wie du – ich möchte einen angenehmen Abend draußen in der Stadt und hier drinnen im Bett verbringen. Mehr verlange ich nicht von dir, und ich will auch nicht, dass du mehr von mir verlangst. Ich will nicht, dass du mich danach fragst, ob ich je verheiratet war oder Kinder habe oder ob meine Eltern noch leben und wo sie wohnen. Du hast nicht danach gefragt, und ich habe nicht erwartet, dass du es tust. Also ist alles in bester Ordnung. Lass es dabei bewenden, und wenn du nichts dagegen hast, würde ich jetzt gerne nach Hause gehen.«
»Aber ich habe etwas dagegen.«
Charlie hatte sich erhoben, die Arme hingen schlaff an seiner Seite, und plötzlich wurde ihm bewusst, wie leicht es sein würde, diesen kleinen Streit zu beenden. Gleichzeitig wusste er, wie sinnlos das gewesen wäre. Nicht dass er moralische Bedenken gehabt hätte; in manchen Situationen war Gewalt einfach keine Lösung. Und Vergewaltigung entsprach nicht seiner Vorstellung von gutem Sex. Nein, seine Partnerin sollte so begeistert bei der Sache sein wie er selbst.
Also lass sie gehen, wenn sie unbedingt möchte, dachte er sich.
Er hob die Hände, die Handflächen nach außen gewandt. »Okay, tu was du willst. Was soll ich machen – dich etwa festbinden?«
Er lachte kurz auf, um zu unterstreichen, dass alles in Ordnung war und sie nichts zu befürchten hatte. Sie sah ihn an, und plötzlich wurden ihre Züge wieder sanfter. »Nein«, sagte sie, »ich weiß, dass du das nicht tun würdest, sonst wäre ich nicht hier.«
Während sie sprach, zog sie ihre hochhackigen Schuhe an und kam hüftschwingend auf ihn zu.
»Es hat großen Spaß gemacht. Ruf mich bald mal an.«
Sie küsste ihn flüchtig auf den Mund, drehte sich um und ging zur Tür. Dort angekommen, blieb sie stehen und warf ihm über die Schulter ein breites Lächeln zu.
»Bis dann.«
Und damit war sie verschwunden.
Charlie zog seinen Bademantel an und ging zur Bar im Wohnzimmer. Er überlegte kurz, ob er Musik auflegen sollte, konnte sich aber nicht entscheiden, welche. Also griff er sich nur ein kaltes Bier, ließ sich in einen Sessel fallen und schwang die Beine über die Armlehne.
In seinem Kopf war nur ein Gedanke, ein Bild, das alles andere überlagerte. Lila war vergessen – wie alle anderen auch. Es war Kathy Ryans Gesicht, das er vor sich sah. Dachte sie jemals an ihn?, fragte er
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