Epsilon
flüchtigen Blick – niemand bemerken würde. Der Anhänger holperte über den Boden und schwang hin und her wie bei einer Fahrt auf einer Achterbahn. Charlie vermutete, dass sie in Richtung des Wohnbereichs der Anlage unterwegs waren.
Als das Rütteln plötzlich aufhörte und der Motor abgestellt wurde, reagierte Charlie blitzschnell und war in der Deckung eines nahen Gebüschs verschwunden, bevor der Fahrer den Anhänger erreicht hatte, um mit dem Abladen zu beginnen. Charlie beobachtete, wie seine Bilder – meist drei oder vier auf einmal, insgesamt ein gutes Dutzend – nach und nach in das Gebäude transportiert wurden, vor dem sie gehalten hatten.
In einem der oberen Stockwerke ging ein Licht an. Charlie blickte nach oben. Es war ein Apartmentgebäude, dessen Fassade aussah, als hätte man eine Menge teurer, überdimensionaler Fernsehgeräte in einem leicht schrägen Winkel aufeinander gesetzt. Die Fenster waren nach außen gewölbt und blickten wie Bildschirme in die Welt hinaus. Dieser Effekt wurde durch sorgfältig gepflegtes Efeu und andere Kletterpflanzen abgemildert. Was leicht fremd und häßlich hätte wirken können, vermittelte so den Eindruck einer typischen Vorstadtsiedlung.
Charlies Aufmerksamkeit wurde auf ein Fenster gelenkt, hinter dem gerade das Licht angegangen war. Er sah, wie dort eines seiner Gemälde hochgehalten wurde, wie um es zu begutachten. Charlie erkannte nur eine Hand, nicht aber die Person, zu der sie gehörte.
Er konnte nun entweder hineingehen und klingeln beziehungsweise die Tür aufbrechen, oder er konnte das Naheliegende tun. Manchmal waren seine Kletterkünste doch ausgesprochen nützlich, dachte Charlie bei sich.
Es gab nicht viel, was seinen Finger- oder Zehenspitzen Halt bot, und jeder Versuch, die Kletterpflanzen zu benutzen, wäre unbesonnen gewesen. Aber Charlie schaffte es, vorsichtig und bedächtig nach oben steigend, schließlich doch, jedes Apartment hatte einen eigenen kleinen Balkon; in diesem Falle lag er unmittelbar vor dem Fenster, das Charlie beobachtet hatte. Er zog sich hoch, stieg über das Geländer und konnte nun problemlos in den Raum hineinsehen.
Es handelte sich um ein durchschnittliches, behagliches Wohnzimmer und gehörte offenkundig einem Menschen, der allgemein an Literatur und Kunst interessiert war – und besonders an Charlie Monks Gemälden.
Kathy Ryan begutachtete seine Bilder, blieb vor jedem stehen, um es sich genauer zu betrachten. Als sie sich alle angesehen hatte, ging sie zum ersten zurück. Bei dieser zweiten Durchsicht blieb sie vor einigen länger, vor anderen kürzer stehen. Charlie hatte das Gefühl, als hätte sie das schon öfters getan.
Die Glastür vom Balkon in das Apartment war nur angelehnt, doch Charlie unterdrückte den Impuls, einfach hineinzugehen. Stattdessen rückte er einen Schritt näher, sodass Kathy ihn sehen konnte, wenn sie sich umdrehte. Dann rief er leise ihren Namen.
»Kathy…«
Sie fuhr nicht erschrocken zusammen, sondern wandte nur den Blick von den Bildern und sah ihn an. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich keine Angst.
»Komm herein, Charlie«, sagte sie. »Man hat mir gesagt, dass du wohl früher oder später hier auftauchen würdest.«
Charlie stieß die Tür auf, dann machte er einen Schritt in das Zimmer hinein und wartete, dass Kathy das Wort ergriff. Sie sah ihn mit einem Blick an, in dem eine merkwürdige Trauer lag, die ihn tief berührte, aber auch beunruhigte. Sie steckte in ziemlichen Schwierigkeiten, das wusste er nun.
»Kathy«, sagte er sanft, »sag mir bitte einfach nur, was hier vor sich geht.«
Sie blickte zu Boden, als fiele es ihr schwer, die Frage zu beantworten. Sie spielte mit einem Gegenstand in ihrer Hand. Er war klein und schwarz, doch Charlie schenkte ihm im Augenblick keine nähere Beachtung.
Er wartete eine Weile auf ihre Antwort, dann wiederholte er: »Kathy, bitte erzähle es mir.«
Sie sah ihn an.
»Ich bin nicht Kathy«, erklärte sie. Ihre Stimme war matt, frei von Gefühlen. »Es gibt keine Kathy Ryan. Mein Name ist Susan – Dr. Susan Flemyng.«
Charlie spürte, wie Verwirrung sich auf seinem Gesicht ausbreitete. Er öffnete den Mund, um gegen diesen Unsinn zu protestieren. Doch sie – Kathy oder Susan, wie sie jetzt genannt werden wollte – hob den Gegenstand in ihrer Hand leicht an, und plötzlich erinnerte sich Charlie an das Ding, mit dem Marihuana-Hemd auf ihn gezielt hatte, bevor der Lastwagen ihm die Sicht versperrt und Charlie für einige
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