Epsilon
dieser Anlage verbarg. Das Gelände war mit einem von Stahlpfosten gehaltenen Zaun umfriedet. Es war nichts sonderlich Einschüchterndes an dieser Absperrung: kein Stacheldraht an der Oberkante, keine abschreckenden Schilder, die vor Hunden oder Hochspannung warnten. Doch der Zaun war gerade hoch genug, um ein Überklettern verdammt schwierig zu machen. Und der Versuch würde mit Sicherheit bemerkt werden. Charlie konnte Kameras über den Haupteingängen der meisten Gebäude ausmachen. Außerdem gab es motorisiertes Wachpersonal: Ein Streifenfahrzeug patrouillierte langsam durch die Anlage, während das andere in der Nähe des Tors geparkt war. Ganz offensichtlich waren Fremde auf dem Gelände unerwünscht.
Virgil Frys weißer Transporter war nirgends zu sehen. Charlie fragte sich, ob Fry irgendwo außer Sichtweite geparkt oder die Anlage bereits wieder verlassen hatte. Falls er nur gekommen war, um einem geheimnisvollen Sammler eine Wagenladung von Charlies Bildern zu liefern, dann befand er sich jetzt wahrscheinlich schon wieder auf dem Nachhauseweg. Was Charlie mit der schwierigen Aufgabe zurückließ, herauszufinden, wer solches Interesse an seinen Kunstwerken hegte – und noch wichtiger: warum.
Genau in diesem Augenblick öffnete sich das Tor zu einem Komplex, der wie die unterirdische Garage eines der Hauptgebäude aussah, und Frys Wagen fuhr heraus. Charlie konnte auf die Entfernung nicht genau erkennen, ob Fry am Steuer saß, nahm es aber an. Er beobachtete, wie der Transporter sich dem Haupttor näherte und schließlich auf die Straße bog, um den Weg, den er gekommen war, zurückzufahren.
Zumindest wusste Charlie jetzt, in welchem Gebäude er mit seiner Suche anfangen musste. Blieb nur noch die Frage, wie er hineinkam. Er blickte auf die Uhr und dann zum Streifenwagen hinüber, der die klinisch sauberen, exakt rechtwinklig angelegten Straßen der Anlage abfuhr. Während der nächsten Stunden beobachtete er die Wachen und maß die Zeit. Sie folgten einer starren Routine mit kleinen, aber ebenfalls feststehenden Variationen. Es würde nicht schwer sein, an ihnen vorbeizukommen. Doch zuerst musste er den Zaun überwinden.
Er spähte zwischen den Zweigen des großen Eukalyptus, auf dem er saß, hindurch und sah sich um. Hinter ihm führte eine Starkstromleitung auf einen Teil des Zauns zu, überquerte ihn allerdings nicht. Er ließ seinen Blick weiter an ihr entlangwandern und sah, dass sie nicht weit entfernt eine weitere Starkstromleitung kreuzte, die an einer Ecke der Anlage nahe am Zaun vorbeiführte. Auf dem Gelände selbst standen einige Bäume, ähnlich dem, auf dem Charlie saß. Wahrscheinlich hatte man sie stehen lassen, um die Monotonie aus Beton und Glas zu durchbrechen.
Charlie schätzte die Entfernung zwischen den beiden Leitungen ab und kam zu der Überzeugung, dass er es durchaus schaffen konnte. Die Leitungen, das wusste er, waren stark genug, sein Gewicht zu tragen. Und er wusste auch, dass sie genug Elektrizität führten, um ihn bei der kleinsten Berührung wie ein Hähnchen zu grillen – sofern er dabei geerdet war. Das hieß also, dass er einen Weg finden musste, den Kontakt mit allem außer der Starkstromleitung zu vermeiden und wie ein Trapezkünstler auf ihr zu landen. Außerdem musste er eine geeignete Absprungstelle finden. Charlie blickte sich erneut um.
Er entdeckte einen Leitungsmast – hoch, schmal und aus beinahe glattem Beton. Er würde ihn wie einen Pfahl erklimmen müssen. Aber es war seine einzige Chance.
Charlie beschloss zu warten, bis es ein wenig dunkler war.
Charlie spannte alle Muskeln an, drückte sich alleine mit der Kraft seiner Füße vom Leitungsmast ab und segelte durch die Luft. Mit weit ausgestreckten Händen packte er das Kabel. Er schwang heftig hin und her und fühlte die Spannung als Brennen auf seiner Haut. Dann nutzte er sein Gewicht, um sich in eine stabile Lage zu bringen. So blieb er für eine kurze Weile still hängen. Das Ganze war vollkommen geräuschlos vor sich gegangen: Das war gut. Nichts war gebrochen, das Kabel hatte nicht nachgegeben. Jetzt musste er sich nur noch an der Leitung entlanghangeln. Manchmal hakte er sich mit den Füßen ein, um ein wenig schneller vorwärts zu kommen, bis er schließlich so nah wie möglich an die zweite Stromleitung gelangt war.
Es war noch immer eine relativ große Entfernung für jemanden, der aus einer hängenden Position heraus abspringen musste. Charlie sah nach unten. Der Boden war hart und
Weitere Kostenlose Bücher