Epsilon
Aufenthalt.
Ein Kombi wartete auf Susan und ihren Vater, den ein freundlicher junger Mann in Jeans und Holzfällerhemd fuhr. Während sie den guten Kilometer zum Haus zurücklegten, erzählte er ihnen, dass die Ranch zwölfhundert Morgen groß sei und sich in einer Höhe von fünfzehnhundert Fuß befände. Der ganze Staat Montana lag etwa tausend Fuß über dem Meeresspiegel – nirgendwo gäbe es bessere Luft als hier, fügte er stolz hinzu.
Es war Amerys Idee gewesen, Susan auf dieser Reise zu begleiten. West hatte keine Einwände erhoben, als sie ihm mitgeteilt hatte, dass Amery mitfliegen würde. Es würde ihr helfen, die schwierige Situation zu meistern, und außerdem würde es Christophers Vertrauen in die Umstände stärken.
»Okay«, hatte West nach einem kurzen Augenblick des Zögerns gesagt. »Ich zweifele nicht daran, dass Sie Ihrem Vater ohnehin alles erzählen, also kann er auch gleich mit dabei sein. Sie sehen, wir wollen Ihnen die ganze Angelegenheit so angenehm wie möglich machen.«
Darauf hatte Susan nicht geantwortet, aber sie hoffte, dass der Ausdruck auf ihrem Gesicht deutlich gezeigt hatte, was sie von dieser Bemerkung – wie von West überhaupt – hielt: dass er nämlich nicht einmal ihrer Verachtung wert war. Glaubte er denn wirklich, dass sie Dankbarkeit empfand, nur weil sie ihren entführten Sohn besuchen durfte?
Christopher erwartete sie auf der Veranda eines der Gebäude, die Susan aus der Luft gesehen hatte. Als ihr Wagen sich näherte, sprang er die Stufen hinunter und winkte ihnen wild zu, Buzz folgte ihm kläffend. Sonst war niemand zu sehen. Christopher flog in die Arme seiner Mutter, während der Hund ihnen um die Füße tanzte, außer sich vor Freude. Sie drückten sich fest aneinander, der Junge aufgeregt über das Wiedersehen, Susan verzweifelt bemüht, ihre Freudentränen zu unterdrücken.
»Lass mich dich anschauen«, sagte sie eine Weile später und hielt ihn auf Armeslänge von sich. »Du siehst gut aus. Gefällt es dir hier?«
»Klar, manchmal. Aber ich vermisse dich, Mama.«
»Ich dich auch.«
Sie umarmten sich erneut.
»Es tut mir leid«, sagte Susan. »Ich werde alles daransetzen, dass es nicht mehr lange dauert.«
»Warum kann ich nicht mit dir kommen? Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Nein, Schatz, es hat nichts mit dir zu tun. Ich muss einen Auftrag erledigen. Im Augenblick gibt es einige Schwierigkeiten, aber die werden nicht ewig dauern.«
Sie hielt inne, blickte ihm in die Augen und wusste, dass er verstanden hatte – zumindest das Wesentliche. Er wusste, dass es nicht an ihm lag und dass es nicht Susan war, die die Trennung wünschte. Es war etwas anderes, und keiner von ihnen konnte etwas dagegen tun. Er sah auch, dass seine Mutter und sein Großvater sich nicht verändert hatten, und das war gut so.
»Was treibst du denn hier die meiste Zeit?«, fragte sie ihn.
Seine Miene hellte sich auf.
»Das hab ich dir doch erzählt: Ich lerne reiten. Ich bin schon ganz gut. Willst du mich reiten sehen?«
»Natürlich will ich das…«
»Und dann gibt’s da noch mein Baumhaus… und ein paar klasse Videos…«
»Hört sich an, als ginge es dir ganz gut…!«
Das Geräusch einer sich öffnenden Tür auf der Veranda ließ sie aufblicken. Eine schlanke Frau in Jeans und einer weißen Bluse war herausgetreten. Sie war etwa fünfzig und hatte das graue Haar zurückgekämmt und zu einem Knoten gebunden. Ihr langes, knochiges Gesicht hätte streng gewirkt, wären da nicht zwei freundlich blitzende blaue Augen mit vielen kleinen Lachfältchen gewesen.
»Ein, zwei Stunden am Tag machen wir Schularbeiten, damit er nicht ganz aus der Übung kommt.«
Die Frau kam die Stufen hinunter auf Susan zu.
»Ich bin Mrs. Hathaway. Christopher nennt mich Tante May.«
Sie bot Susan keine Hand an, ebenso wenig wie Susan ihr, aber sie sahen sich direkt in die Augen, ohne den Blick abzuwenden.
»Sie scheinen gut für ihn zu sorgen, Mrs. Hathaway. Wenigstens dafür bin ich dankbar.«
»Er ist ein netter Junge. Wir alle hier mögen ihn.« Sie sah an Susan vorbei und beobachtete, wie Christopher nun seinen Großvater umarmte. Auch Susan blickte sich um. Mit einem Mal überwältigte sie ein Gefühl des Irrealen. Nein, das alles hier konnte nicht wirklich geschehen; es konnte nur ein Traum sein, aus dem sie jeden Moment mit einem Seufzer der Erleichterung erwachen würde, um alles wie früher vorzufinden: mit John an ihrer Seite und Christopher, der durchs Haus rannte und
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