ePub: Der letzte Zauberlehrling
Weg zum Haus von Gordius einbog. In den Fenstern sah ich kein Licht. Sollte der Alte schon zu Bett gegangen sein? Das war ungewöhnlich, denn er hatte, seit ich ihn kannte, stets unter Schlafstörungen gelitten und zumeist bis Mitternacht in seinem Labor herumgefuhrwerkt, bis er sich in den frühen Morgenstunden endlich hingelegt hatte.
Es kostete mich meine letzte Kraft, den Karren keuchend die leichte Steigung emporzuziehen. An der Gartenpforte ließ ich die Deichseln vorsichtig auf die kleine Steinmauer herab, damit Tucker nicht herunterrutschte. Meine Knie zitterten,und ich musste mich erst einmal gegen den Pfosten der Gartentür lehnen, um wieder zu Atem zu kommen. Dann ging ich zur Haustür und klopfte. Im Haus rührte sich nichts.
Gordius musste wirklich schon schlafen gegangen sein. Ich schlug noch einmal gegen das Holz, diesmal etwas lauter und länger. Keine Reaktion.
Vielleicht war Gordius gar nicht zu Hause? War er zu einem Notfall gerufen worden? Das kam zwar selten vor, aber war nicht auszuschließen. Direkt neben der Haustür stand eine hohe Blechmilchkanne, wie sie früher von den Bauern verwendet worden war. Ich nahm den Deckel ab und steckte meinen Arm bis zum Boden, wo ich wie erwartet einen Zweitschlüssel fand. Das war kein besonders sicheres Versteck, aber so etwas brauchte man hier in der Gegend auch nicht, denn niemand würde den Frevel begehen, einen Zauberer zu bestehlen.
Leise schloss ich die Tür auf und tastete nach dem Lichtschalter. Mit einer leichten Verzögerung leuchtete eine elektrische Deckenlampe auf. Gordius mochte der alten Generation angehören, aber er begrüßte alles an neuen Entwicklungen, was seine Arbeit erleichterte. So war er einer der Ersten gewesen, die sich elektrisches Licht zugelegt hatten. Im Schuppen hinter dem Haus war die große Batterie untergebracht, aus der er die Energie für seine Lampen bezog.
»Gordius!«, rief ich. »Meister! Sind Sie da?« Aber im Haus blieb es still, und das ließ nur den Schluss zu, dass Gordius tatsächlich nicht daheim war. Ich stöhnte. Also würde ich Tucker wohl allein verarzten müssen. Das würde ich mithilfe der Pasten und Tränke von Gordius wohl schaffen, wenn seineVerletzungen nicht zu schlimm waren. Mir grauste vielmehr bei dem Gedanken, den Mann vom Karren bis hierher schleppen zu müssen.
Schnell bereitete ich alles vor. Ich räumte den langen Holztisch leer, holte ein Laken aus dem Wäscheschrank und breitete es darauf aus, ließ Wasser in eine Schüssel ein und legte ein paar saubere Lappen daneben. Dann machte ich mich auf, um meinen Patienten zu holen.
Zu meiner Überraschung sah ich im Lichtschein der Lampe, der durch die offene Tür bis zum Gartentor fiel, dass Tucker die Augen geöffnet hatte.
»Humbert«, röchelte er, als er mich erblickte, und versuchte, sich auf dem Karren aufzurichten.
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte ihn vorsichtig zurück. »Keine Sorge, Tucker. Ich werde dich sofort verarzten.«
»Aber ... aber ...« Er schloss die Augen.
»Tucker?«, fragte ich. »Meinst du, du schaffst es, die paar Schritte bis zur Tür zu laufen?« Ich rüttelte ihn leicht an der Schulter und wiederholte meine Frage. Er stöhnte, schlug die Augen wieder auf und nickte unmerklich.
Ich half ihm, sich aufzurichten, und legte seinen Arm um meine Schultern. Dann griff ich um seine Hüfte, und gemeinsam stolperten wir die paar Meter bis zur Tür. Kurz vor dem Ziel wäre er mir fast noch entglitten, aber mit letzter Kraft schob ich ihn zum Tisch und drehte ihn ächzend um, sodass er darauf zu sitzen kam. Etwas unsanft ließ ich seinen Oberkörper auf den Tisch hinab und hob dann seine Beine nach oben. Dabei stöhnten wir beide um die Wette. Schließlichhatte ich ihn in der Position, in der ich ihn haben wollte. Ich holte ein paar Mal tief Luft. Dann tunkte ich einen der Lappen in das Wasser und begann damit, das getrocknete Blut aus seinem Gesicht zu wischen.
Es dauerte fast zwei Stunden, bis ich ihn komplett verarztet hatte. Gordius hatte mich in den letzten Jahren oft hinzugezogen, wenn er Erste Hilfe leistete oder Kranke behandelte, und ich war froh darüber, nichts davon vergessen zu haben. Im Medizinschrank fand ich alles an Pulvern, Kräutern und Tinkturen, was ich benötigte, um Tuckers Wunden zu behandeln. Seine Peiniger mussten ihn systematisch misshandelt haben, denn sein ganzer Körper wies blaue Flecken auf. Zum Glück schien nichts gebrochen zu sein.
Nach Abschluss der Behandlung
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