ePub: Drachenhaut (German Edition)
waren nicht aus Stein.
»Ich denke nicht daran, hörst du, Naga?«, sagte sie laut und wandte der Tür den Rücken zu.
Plötzlich waren überall Türen. Große, riesige, überdimensionale. Aus Holz, Stein und Metall. Verriegelt, verschlossen, mit Ketten gesichert. Schimmernder Schlosszauber lockte, summte, bat.
Lilya gewöhnte es sich an, den Blick abzuwenden, wenn sie auf so eine Tür traf. Sie sang, um das Summen des Zaubers nicht zu hören und die Stimme zu übertönen, die in ihrem Inneren flehte. Sie würde ihren Schwur nicht brechen, niemals. Der Naga konnte sie gefangen halten, aber er konnte ihren Willen nicht beugen.
Das sagte sie laut vor sich hin, als sie an einem dieser Riesenportale vorüberging. Öffne mich, schien das eiserne Tor zu rufen. Es ist ganz leicht, nur eine Handbewegung, etwas geistige Anstrengung, kaum mehr, als es braucht, um eine Mücke zu erschlagen. Komm und öffne mich!
»Du kannst meinen Willen nicht brechen, Naga!«, sagte sie laut.
Der Drache hockte vor ihr im Gang, sie hatte ihn nicht gesehen. Sie erwartete, dass er lachen oder wütend werden würde ‒ beides war möglich und beides hatte sie schon zur Genüge erlebt. Aber er tat weder das eine noch das andere. Er saß nur da und sah sie an. »Du willst, dass wir beide hier sterben«, sagte er. »Du nimmst es in Kauf, hier zu sterben ‒ und ich mit dir ‒, nur um deinen Dickkopf durchzusetzen. Du lässt eine Welt zugrunde gehen, nur um rechtzu behalten. Ich weiß nicht, ob du die Kräfte verdienst, die deine Mutter dir geschenkt hat. Ich weiß nicht, ob deine Mutter gut daran getan hat, dich mit ihrem eigenen Leben zu beschützen.«
Lilya fand sich vor ihm wieder, wie sie mit den Fäusten auf seinen riesigen Kopf einschlug. Sie war blind vor Zorn. Funken sprühten vor ihrem Blick, und sie atmete so schwer und heftig, als wäre sie die große Treppe zur Burg in einem Rutsch hinaufgerannt.
Die reglosen Opalaugen ließen sie nicht aus dem Blick. Der Drache machte keine Anstalten, sich gegen ihren Angriff zu wehren, der ihm sicher so lächerlich erschien, als würde eine Maus versuchen, ihn zu Tode zu erschrecken.
»Ich hasse dich«, schrie Lilya atemlos und sank vor seinen Tatzen auf den Boden. »Ich hasse dich noch viel mehr als Kobad oder den schrecklichen Shâya!« Tränen der Wut verschleierten ihren Blick. Sie bemerkte, dass Arme sich um sie schlossen und sie ihren Kopf an eine Schulter legte, die sich menschlich anfühlte. Sie schniefte und schluckte und genoss die Berührung tröstender Hände auf ihren Schultern. »Ist es wahr, was du sagst?«, fragte sie. »Ist Amayyas in Gefahr?«
Der Naga nickte, sie spürte die Bewegung seines Kopfes an ihrer Wange. »Es ist wahr«, bestätigte er. »Ich kann nichts tun, mich bindet der Fluch ebenso wie ihn. Du weißt inzwischen, dass Zauber immer ihren Preis von dem fordern, der sie wirkt.«
Lilya machte sich los und rieb ihre Augen. »Ich sollte also gehen.«
»Das solltest du.«
»Ich kann die Tür nicht öffnen, ohne meinen Schwur zu brechen.«
Der Naga nickte. »Es war ein dummer Schwur«, sagte er.»Dumme Schwüre zu brechen, ist keine Schande.« Er lächelte schwach. »Ich spreche aus Erfahrung.«
Lilya biss sich auf die Lippe. »War es ein dummer Schwur? Oder versuchst du mich wieder in eine Richtung zu beeinflussen, in die ich nicht gehen will?«
Der Naga hob die Hände und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er. »Du kannst dir diese Frage nur selbst beantworten. Willst du das Erbe deiner Mutter annehmen oder nicht?«
Lilya antwortete nicht. Sie sah in sein Gesicht, das ihr früher so undurchschaubar erschienen war. Doch seit sie hauptsächlich mit seiner Erscheinungsform als Drache zu tun hatte ‒ und in dem schuppenhäutigen Reptiliengesicht Regungen, Gefühle, die sparsame Art von Mimik zu erkennen gelernt hatte ‒, erschien ihr das Gesicht des Schlangengottes jetzt so lebendig, vertraut und gut zu lesen wie das eines engen Freundes.
»Ich will mich nicht verändern«, sagte sie. »Noch bin ich ein Mensch. Ich weiß nicht, was ich sein werde, wenn ich meine Drachenkraft annehme. Werde ich dann ... so sein wie du?«
Der Naga hob die Schultern. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er. »Aber deine Mutter war auch ein Drache und dein Vater Mensch und Leopard. Zu was macht dich das deiner Meinung nach?«
Lilya wandte den Blick ab. Sie konnte sich selbst nicht belügen, auch wenn sie versucht hatte, es vor dem Naga zu leugnen. Ihre
Weitere Kostenlose Bücher