ePub: Drachenhaut (German Edition)
ihr herschallte.
Sie fand eine Tür, die nach draußen führen musste. Abweisend und fest verriegelt, wuchtig wie ein Stadttor, stemmte sie ihre Angeln in die fugenlose Steinwand. Sie ragte so hoch über Lilyas Kopf auf, dass allein der Anblick dieser Tür ihren Mut sinken ließ. Selbst wenn sie einen Weg fand, die Riegel zu öffnen ‒ ihr würde die Kraft fehlen, diese mächtigen Türflügel aufzuschieben. Das war ein Tor, das nur ein ausgewachsener Drache öffnen konnte.
»Meine Mutter hätte es gekonnt«, murmelte sie.
»Deine Mutter konnte noch viel mehr«, sagte der Drache. Er war lautlos hinter ihr aufgetaucht, und Lilya musste sich sehr zusammennehmen, um kein Erschrecken zu zeigen.
»Öffne mir die Tür«, forderte sie.
»Das kann ich nicht.«
Sie fuhr herum, stemmte die Hände in die Seite. »Das kannst du nicht?«
Der Drache setzte sich auf die Hinterbeine und zuckte mit einer menschlich wirkenden Geste mit den Schultern. »Ich habe sie nicht verriegelt, also kann ich sie auch nicht öffnen.« Er verzog das Maul zu einem Grinsen. »Wenn man es genau nimmt, bin ich hier der Gefangene, nicht du.«
Lilya wandte sich ab und blickte an der Tür empor. Sie kniff die Augen zusammen, um in der rauchgeschwängerten, trübenLuft Einzelheiten zu erkennen. Dort waren zwei Riegel, die in einem trüben Rot schimmerten. Dort ein Schloss, in dem ein mächtiger Schlüssel steckte. Schloss und Schlüssel glühten dunkelgrün. Zauber. Schlosszauber. Sie kannte die Zeichen, die den Zauber lösen würden, aber sie wollte sie nicht benutzen. »Ich will nicht«, sagte sie laut. »Ich habe geschworen, nie wieder einen Zauber zu wirken. Ich halte meinen Schwur.«
»Dann werden wir hier sterben«, erwiderte der Drache. Er klang erstaunlich vergnügt. »Du bist ein verdammter Dickkopf, Lilya. Aber ich auch. Wir werden hier noch viel Spaß miteinander haben, ehe wir sterben. Das kann allerdings ein paar Jahrtausende dauern, Drachen leben lang.«
»Ich bin kein Drache«, widersprach Lilya.
»Du hast die Sturheit, die Kraft und das Feuer eines Drachen«, erwiderte er. »Du weigerst dich nur, dein Erbe anzunehmen. Das ist schade. Es gibt in Mohor jemanden, der dringend deine Hilfe benötigt.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging davon.
Lilya sah erstarrt zu, wie sich der schwere, stachelbewehrte und schuppige Leib des Drachen auf seinen kräftigen Tatzen ins Dunkle schob. Sein zackiger Schwanz scharrte mit einem metallischen Geräusch über den Boden.
»Naga!«, rief sie, als er die Öffnung zum Gang passierte. »Was willst du damit sagen? Wer braucht meine Hilfe?«
Der Drache verharrte. »Dein Prinz, dem du Erlösung versprochen hast«, sagte er sanft. »Der Weg zu ihm führt durch diese Tür.« Mit diesen Worten verschwand er in der Dunkelheit.
Lilya hockte lange vor dem verschlossenen Tor und starrte die Riegel an. Sie legte das Gesicht in die Hände und dachte nach.Es war sicherlich eine Finte. Der Drache wollte sie dazu verleiten, ihren Schwur zu brechen und einen Zauber zu wirken. Sie wusste, dass es ihr gelingen würde, die Riegel zu öffnen. Das raffinierte Reptil, der verschlagene Schlangengott, ihr unmenschlicher Großvater wusste genau, was er sagen musste, damit sie tat, was er wollte. Er war der Meister der Manipulation und der Gott der Lügen und des Betrugs.
Lilya seufzte und betrachtete die Zeichen auf ihren Armen. Dort war der Schlosszauber. Öffnen und Schließen, Verriegeln und Aufbrechen, das alles lag in der Macht dieses unscheinbaren Zeichens, das aussah wie eine sternförmige Blume. Um zu öffnen, musste sie das Zeichen verkehren, das war einfach. Inzwischen fiel ihr die Umkehr der Zeichen so leicht, dass sie nicht darüber nachdenken musste. Ein wenig schwieriger, weil ihr die Übung fehlte, war die Frage der Farbauswahl, aber auch das war in diesem Fall einfach ‒ die Riegel benötigten ein strahlendes Goldgelb, wie das Innere einer Sternblume.
Lilya seufzte wieder. Jetzt erst erkannte sie, was der Drache sie alles gelehrt hatte. Sie beherrschte die Zeichen auf ihrer Haut, ohne groß darüber nachzudenken. Sie konnte mit einigen Fingerbewegungen den Stein, auf dem sie hockte, in die Luft heben und gegen die Tür schmettern. Es würde ihr wahrscheinlich auch nicht allzu schwerfallen, die wuchtige Tür aufzuschieben. Linke Wade, Außenseite. Schwere Last wird leicht. Ein Zeichen wie ein Schmetterling.
Lilya stand auf und unterdrückte den Impuls, gegen die Tür zu treten. Ihre Zehen
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