ePub: Drachenhaut (German Edition)
seinen Kopf wild hin und her, und sie musste ihren Griff lösen, denn sie war deutlich kleiner und leichter als der Leopardenmann. Schwer atmend standen sie voreinander, die Mäuler geöffnet, hechelnd.
»Trink dich noch voll«, sagte Aghilas. »Du bist es noch nicht gewöhnt, ohne Wasser zu laufen.«
Lilya dehnte die ungewohnten Muskeln. Es war gleichzeitig fremd und seltsam vertraut, so auf allen vieren zu laufen, einen langen, kräftigen Schwanz zu haben, der das Gleichgewicht im Sprung steuerte, einen Geruchssinn, der völlig andere Gerüche erkannte, Augen, mit denen sie gleichzeitig scharf und vollkommen unscharf sah ‒ je nachdem, ob sie ein bewegtes oder unbewegtes Objekt anblickte. Die Farben der Umgebung erschienen matt und körnig, aber Farben waren nicht wichtig. Viel wichtiger waren die Empfindungen und Eindrücke, die sie durch ihre Tasthaare wahrnahm. Sie schloss die Augen und ließsich nur von den empfindlichen Tasthaaren zum Brunnen geleiten. Zweimal stieß sie an einen Stein und sie stolperte an der Brunneneinfassung, aber je länger sie diese fremden Sinneseindrücke empfing, desto klarer und deutlicher wurde das Bild, das sie lieferten.
»Es geht aber besser, wenn du die Augen öffnest«, hörte sie Aghilas amüsiert sagen.
Lilya kicherte. Sie versuchte, ihr Bild im Wasser des Brunnens zu erkennen, aber sie sah nur ein Paar leuchtend grüne Augen und helle und dunkle Flecken rundherum. »Wie sehe ich aus?«, fragte sie.
»Wie meine Schwester«, sagte der Leopard. »Du bist ein schönes Weibchen, Tochter meines Vaters.« Er machte ein schnurrendes Geräusch.
»Schmeichler«, sagte Lilya und beugte sich erneut über den Brunnenrand. Das Wasser roch frisch und süß, und sie trank, bis sie sich schwerfällig zu fühlen begann.
»Laufen wir«, rief Aghilas.
Lilya benötigte einige Minuten, bis sie den richtigen Rhythmus gefunden hatte, in dem ihre Beine sich bewegen mussten. Sie stolperte hin und wieder und kam aus dem Tritt, aber dann war es mit einem Mal, als hätte sie immer schon vier Beine gehabt, die sich kraftvoll vom Boden abstießen. Die Bewegung war so berauschend, dass sie am liebsten laut gelacht hätte. Sie war als Mensch nie gerne gelaufen, aber jetzt hatte sie das Gefühl, dass sie am liebsten nie mehr anhalten würde, immer so weiterrennen wollte an Aghilas Seite, bis sie den Rand der Welt erreichte ‒ und dann weiterzulaufen, von Stern zu Stern zu springen, bis ans Ende aller Zeit.
D ie Welt hat keinen Rand , sagte eine kleine Lilya-Stimme in ihrem Kopf.
Natürlich hat sie einen Rand, erwiderte die Leopardin. Alles hat ein Ende, auch die Welt. Und der Himmel gehört den Leoparden.
Der Weg, den sie nahmen, erschien ihr länger als der, den Lilya mit der Karawane gereist war. Sie fragte Aghilas. Der bestätigte ihren Verdacht und sprach von Wasserstellen, Karawanenstrecken, Jägern und dem Problem, etwas zu essen zu finden.
Vor allem Letzteres bereitete Lilya im wahrsten Sinne des Wortes Magendrücken. Gegen Ende ihrer ersten Tagesetappe hatte Aghilas sie langsam weitertraben lassen und war in eine andere Richtung davongerannt. Kurz darauf kehrte er zurück, ein blutiges Bündel aus Fell, Fleisch und Knochen im Maul.
»Essen«, sagte er und ließ die Beute vor Lilyas Füße fallen. Sie starrte entsetzt darauf nieder und wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als der Blutgeruch ihr in die Nüstern stieg. »Ich ...«, stammelte sie, »... das kann ich nicht ...«
Aghilas knurrte ungeduldig und riss die Beute mit Zähnen und Krallen auseinander. Er verschlang seinen Anteil und nickte Lilya auffordernd zu. »Du musst essen. Wir haben noch einen anstrengenden Weg vor uns.«
Lilya starrte immer noch angewidert das Zeug vor ihren Füßen an, als ihr Magen laut zu knurren begann. Der Hunger wurde rasend, ehe sie überhaupt Gelegenheit hatte zu bemerken, dass sie hungrig war. Speichel troff von ihren Lefzen.
Mit einem Fauchen wie ein Schrei und fest zusammengekniffenen Augen machte sie sich über die Beute her, riss mit den Zähnen das zähe, blutige Fleisch in Fetzen und schlang es hinunter.
I ch muss mich übergeben , sagte das kleine Lilya-Stimmchen.
Halt den Mund und iss , erwiderte die Leopardin. Wir müssen bei Kräften bleiben!
Ich werde nie wieder einen Bissen Fleisch anrühren, wenn ich wieder ein Mensch bin, schwor Lilya. Und diesen Schwur gedachte sie zu halten!
»Wir könnten ein paar Tage Rast in meinem Revier machen«, sagte Aghilas beiläufig, als sie am
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