ePub: Drachenhaut (German Edition)
sich da ausbreiteten und gezackte Muster über die Decke sandten? Lilya schloss aus alter Gewohnheit ihr böses Auge, und der Schatten verschwand. Dann öffnete sie es erneut, und der Schatten war größer und deutlicher als zuvor.
Lilya wich unwillkürlich zurück. Was immer diese Erscheinung hervorrief, es musste riesig sein. Warum konnte sie es dann nicht sehen?
Eine Gestalt löste sich aus dem Schatten und kam auf sie zu. Lilya sah ihr gebannt entgegen, aber es war kein Ungeheuer, das zu ihr trat, sondern eine Frau in einem dunklen Gewand. Sie hatte schwarzes Haar und eigenartig helle, beinahe farblose Augenin einem Gesicht, das so dunkel war wie Lilyas. Als sie näher kam, konnte Lilya die Schnörkel und Kringel im Gesicht der Frau sehen. Es waren nicht die auffällig bunten Tätowierungen, wie sie die Wüstenmenschen im Basar gezeigt hatten, sondern feine, beinahe farblose Linien, die sich kaum von der dunklen Haut abhoben.
»Lilya«, sagte die Frau. Ihre Stimme war dunkel und weich. »Wie schön, dass du endlich hierher gefunden hast.«
»Kennen wir uns?«, fragte Lilya. Sie ließ zu, dass die Frau ihre Hand nahm und sie eingehend musterte. Erst als die Fremde die Hand hob und sie an der Schläfe berühren wollte, bog Lilya den Kopf beiseite und zog ihre Hand aus dem Griff. »Kennen wir uns?«, wiederholte sie schärfer.
Die Frau lächelte, und die Zeichnung auf ihrem Gesicht tanzte. Die zarten Linien schienen zu leuchten. Es sah gespenstisch aus. »Setz dich«, sagte die Frau und deutete auf eine Bank, die plötzlich im Raum stand. Sie ließ sich mit einer fließenden Bewegung darauf nieder und klopfte einladend neben sich.
Lilya kam der Aufforderung zögernd nach. Während sie sich hinsetzte, wurde die Bank zu einem weichen Diwan, die Lehne zu großen Kissen, in die sie beinahe versank. Sie stieß einen erschreckten Laut aus.
Die Frau lachte tief und glucksend. Sie beugte sich vor, und ehe Lilya zurückweichen konnte, hatte sie ihre Hand auf Lilyas Wange gelegt. »Du bist so groß geworden«, sagte sie. »Wie geht es dir? Behandelt der schreckliche alte Mann dich gut?«
Lilya riss die Augen auf. »Wer? Mein Großvater?«
Die Frau sah sie an, ohne zu blinzeln. Der starre Blick ihrer Augen hatte etwas Bedrohliches. Das waren keine Menschenaugen, dachte Lilya. Das waren Augen eines Tiers, einer Schlange oder einer Eidechse. Hell wie Opale, kalt wie Mondstein, leuchtend wie ferne Sterne. Sie schauderte. »Wer bist du?«, fragte sie.
Die Frau griff wortlos nach ihrem Handgelenk. Sie drehte es und tippte sacht gegen Lilyas Faust. »Was hast du da?«
Lilya blickte verblüfft nach unten. Immer noch umschloss sie mit festem Griff das kleine Amulett. Sie zwang ihre Finger, sich zu öffnen, und hielt es der Fremden entgegen.
Diese zog ihre Hand zurück, ohne das Amulett zu berühren. Ihr Gesicht zuckte. »Oh«, sagte sie und es klang angewidert. »Das ist böse. Aber du weißt es nicht besser. Der alte Mann hat dich schlecht erzogen.«
Lilya biss die Zähne zusammen. »Es hat mich beschützt«, sagte sie.
»Natürlich hat es das.« Die Frau zog den Schal enger um die Schultern und kreuzte die Hände vor der Brust. »Du solltest es mir zurückgeben. Es gehört dir nicht.«
Lilya sah das Amulett an. Die Kringel auf dem Pergament leuchteten silbrig. Sie sahen aus wie die Zeichnungen im Gesicht der Frau. Lilya blickte auf. Die gleichen Symbole, silbrig leuchtend auf der dunklen Haut. Die Frau zog die Lippen von den Zähnen zurück; ein Lächeln, das eher Zorn als Freude ausdrückte. »Gib es mir«, wiederholte sie. Ihre Hand löste sich von dem Schal und machte eine auffordernde Geste.
Lilya blickte hinab und schrie leise auf. Die Hand war wie das Gesicht mit zarten Linien gezeichnet, aber mitten in der Handfläche war ein Loch, durch das sie hindurchblicken konnte. Schwarz, böse, mit gezackten Rändern, als wären Haut und Fleisch mit Gewalt herausgerissen worden.
»Gib es mir zurück«, befahl die Frau scharf. Sie schnippte mit den Fingern der zerstörten Hand, und das Amulett sprang mit einem singenden Laut aus Lilyas Hand in die der Frau. Es zerschmolz und füllte das schreckliche Loch, bis dieses vollkommen verschwunden war. Die Kringel des Zaubers bedeckten die Handfläche.
Lilya sah furchterfüllt auf. Ihr Blick tastete über das Gesicht der Fremden. Jeder dieser Kringel und Schnörkel war ein Zauberspruch, und sie alle bewegten sich unter der dunklen Haut wie leuchtende Tiere. Vor ihren Augen
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