ePub: Drachenhaut (German Edition)
leer und traurig und bin so matt, dass ich kaum einen Fuß vor den anderen setzen kann. Er lässt mich dann von einem der Zungenlosen wieder nach unten tragen, und ich bin zu müde, um mich gegen die Berührung zu wehren, vor der ich mich so ekle. Diese Zungenlosen sind für mich fast so schrecklich wie Großvaters Daevas.
Ich weiß nicht, warum er das tut. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn liebe, aber dass ich all das nicht mehr möchte. Er lacht nur und streichelt mir über den Kopf und nennt mich seine kleine, tapfere Peri. Aber ich bin keine Fee. Ich bin nur ein Mädchen, das Angst hat.
Ich habe Angst, wenn mein Auge, das einmal mein böses Auge war, mir die Dämonen zeigt, die auf seiner Schulter oder auf seinem Kopf hocken. Habe ich geträumt, als ich Daevas aus seinem Mund kommen sah? Es war doch sicher ein böser Traum, dass sie aus seinen A ugen schauen. Ich sehe nicht mehr meinen Großvater Kobad, der mich anblickt, sondern die bösen, fremden Augen der Dämonen. Es ist das Auge, das mich narrt. Es ist wohl immer noch mein böses Auge, auch wenn es nicht mehr so aussieht.
Aber weißt du, was beinahe das Allerschlimmste für mich ist? Er zwingt mich, diese Maske zu tragen. Ich soll mein Gesicht nicht zeigen. Die Leute sollen nicht über mich reden. Aber, Seelenbruder, er lässt mich doch gar nicht mehr hinaus! Ich darf nicht einmal mehr an den Abendessen mit meinen Tanten und Cousinen teilnehmen. Ich sehe nur ihn und seine Zungenlosen und Ajja, die sich vor mir fürchtet. Oder sich ekelt? Ich weiß es nicht. Ich habe sie gefragt, was das alles zu bedeuten hat, aber sie will oder kann mir nicht antworten. Ich gehöre nicht zu ihrem Volk, sagt sie nur, und es scheint sie mehr zu schrecken, was mit mir geschieht, als es mich selbst schreckt.
Oh, ich bin so allein und so voller Angst. Was geschieht nur mit mir?
Ich vermisse Yani so sehr. Er hat mich zum Lachen gebracht und er hat mir Gesellschaft geleistet, er war da, wenn ich mich einsam gefühlt habe, und ich habe ihn trösten können, wenn er vor Heimweh krank war. Jetzt habe ich niemanden mehr, nicht zum Lachen, nicht zum Trösten, nicht zum Festhalten.
Seelenbruder, warum kannst du nicht kommen und mich retten?
Wieder der gleiche Traum. Sie lief durch die endlose Höhlenwelt, in die niemals das Tageslicht drang. Irgendwo hinter ihr wisperte die kalte Stimme der Drachenfrau. Lilya hielt sich dieOhren zu und rannte durch die Dunkelheit, während Tränen über ihr Gesicht liefen. Sie wollte nicht hören, was die Drachenfrau sagte. Sie gehörte nicht zum Wüstenvolk, und nichts von dem, was die Drachenfrau ihr einflüsterte, war ihr vertraut oder angenehm. »Ich bin keine Drachengeborene«, hatte sie immer wieder gerufen, geschrien, gebettelt, gefleht. »Ich gehöre nicht zu euch. Seht mich an, es ist ein Irrtum. Ich bin dunkel wie du, aber das ist ein Zufall. Mein Großvater ist ein Sardar, mein Vater war ein Sardar, ich bin eine Sardari. Lass mich gehen. Hör auf, meine Träume heimzusuchen. Geh!«
Sie rannte, hörte ihren Atem keuchen, ihre Flanken brannten, ihr Blut pochte laut in den Schläfen, übertönte sogar das beständige Wispern und Flüstern der Drachenfrau.
»Seelenbruder«, flehte sie. »Rette mich!«
Das Flüstern der Drachenfrau verstummte plötzlich. Lilya wurde langsamer und blieb stehen. Sie drehte sich verunsichert um die eigene Achse. Wo war sie? Warum war sie hier? Sie schlief und träumte ‒ oder war sie jetzt und hier wach?
Einen Augenblick lang wurde ihr schwindelig. Es fühlte sich alles vollkommen real und wahrhaftig an. Sie spürte den rauen Steinboden unter den Füßen, sie roch die etwas abgestandene, aber kühle Luft der unterirdischen Stollen, sie fühlte, wie der Schweiß auf ihrer Haut verdunstete und sie eine Gänsehaut bekam. Das hier war echt.
Sie drehte sich noch einmal um. Wenn das die Wirklichkeit war, was war ihr Leben im Haus ihres Großvaters? Sie schloss die Augen und schauderte. Bilder von Daevas gaukelten vor ihrem Blick. Sie erinnerte sich an die Benommenheit und ihre Unfähigkeit, sich zu bewegen, wenn sie im Zauberdämmerschlaf lag.Das war doch alles sehr viel unwirklicher als das, was sie jetzt hörte, fühlte und sah. War dies ihr wahres Leben und alles andere nur ein Traum?
Ein Geräusch irgendwo im Dunkel vor ihr ließ sie aufschrecken. Dort war jemand, atmete, bewegte sich.
»Hallo?«, rief sie verzagt. So gut ihre Nachtsicht auch war, die Finsternis hier in den Stollen und Höhlen war so
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