ePub: Drachenhaut (German Edition)
gewesen ist. Du frakst dich, was mit meinem Bruder ist? Er lept auch und hat sich gefroit, das ich auch lep und wider da bin. Ich wone bei iem und seiner Frau. Es get mir gut. Hofentlich get es dir auch gut. Ich umarme dich und vermise dich.
Dein Yani.
Lilya rieb sich über die Augen. Die Erleichterung darüber, dass Yani gesund und lebendig war und dass seine Flucht gelungen war, ließ ihre Hände zittern und das Herz bis zum Hals klopfen. Würde sie ihn jemals wiedersehen?
Ajja kam durch die Tür herein. Lilya ließ den Brief hastig in ihren Kleidern verschwinden. Sie musste jeden Gedanken an Yani aus ihrem Kopf verbannen, ihr Großvater würde es sonst bemerken. Manchmal glaubte sie, er könnte ihr bis auf den Grund ihrer Seele blicken.
Ajja bemerkte ihre Aufregung nicht. Sie legte Lilya den Schleier um und nickte zufrieden. »Geh jetzt. Dein Großvater wartet in der Halle.«
Lilya war schon an der Tür, als ein Aufschrei sie zurückhielt. »Kind, wo habe ich meinen Kopf! Hier, vergiss das nicht. Der Herr lässt mich peitschen, wenn ich das vergesse!« Ajja hielt ihr die verhasste Halbmaske hin.
Lilya verzog das Gesicht. Mit spitzen Fingern nahm sie die Maske aus Ajjas Hand entgegen und ging zum Spiegel, um sie aufzusetzen. Ein Zauber hielt das federleichte, aus Spinnenseide, Sternenglanz und Schwanenpelz gewobene Werk zusammen. Derselbe Zauber sorgte auch dafür, dass die Maske ohne Bänder oder ähnliche Vorrichtungen an ihrem Gesicht haftete, und zwar so fest, dass nur ihr Großvater sie wieder davon befreien konnte. Die schneeweiße Maske war wunderschön gearbeitet, sie sah aus wie ein ausgefallenes modisches Accessoire, aber Lilya hasste sie mit aller Kraft. Sie bedeckte nur die linke Hälfte ihres Gesichtes, ihre böse Hälfte, sodass die Zeichnungen auf ihrer Haut nicht mehr zu sehen waren. Mund und Nase waren frei, denn dort war die Haut unversehrt. Noch.
Jeden Morgen musterte Lilya sich mit Sorge vom Kopf bis zu den Füßen in dem großen Spiegel. Die Linien wuchsen und eroberten mit jedem Tag etwas mehr von ihrer Haut. Der Tag würde kommen, an dem die Maske nicht mehr ausreichte. Der Tag war nah, an dem sie würde Handschuhe tragen müssen. Einen Schleier, der Kopf und Hals vollkommen verhüllte.
Lilya schauderte und erwiderte den Blick, den ihre Augen ihr im Spiegel schickten. Angst.
Ajja scheuchte sie hinunter in den Eingangshof, wo ihr Großvater schon auf sie wartete. »Da seid ihr«, sagte er und deutete ungeduldig auf die Sänfte. »Steig ein, Kind. Man lässt den Shâya nicht warten.«
Vier Träger hoben die Sänfte auf, und sie schaukelten im schnellen Trab durch die Pforte. Die Hitze der Straße schlug wie eine Faust gegen Lilyas Brust. Sie rang nach Luft und griff hastig nach dem Fächer, den Ajja ihr noch in die Hand gedrückt hatte.
Der Beg saß stumm und reglos ihr gegenüber, das bärtige Kinn auf die Brust gesenkt und die Augenbrauen so düster zusammengezogen, dass sie seine Augen nicht sehen konnte. Sie fächelte sich die stickige Luft zu und warf ihm unbehagliche Blicke zu. Heute sah sie keinen Dämon auf seiner Schulter hocken und ihm ins Ohr flüstern, wie sie es noch in der Nacht beobachtet hatte. Sie fröstelte trotz der Hitze. Kobad war ihr in den letzten Wochen so fremd geworden, dass sie kaum noch ihren Baba in ihm erkannte. Sie konnte sich nicht erklären, was in ihm vorging. Warum legte er plötzlich Wert darauf, dass sie bei Hofe eingeführt wurde? Er hatte sie doch all die lange Zeit sorgsam vor jeder Gesellschaft abgeschirmt. Was hatte sich verändert?
Er blickte mit fragender Miene auf, als hätte sie etwas zu ihm gesagt. »Mein Kind?«, sagte er.
»Warum?«, erwiderte sie, ohne ihre Frage weiter zu erläutern. Nach Nächten wie der vergangenen schienen ihre Gedanken und die des Begs gelegentlich auf seltsame Weise miteinander im Rapport zu stehen.
»Der Shâya wünscht meine Enkelin kennenzulernen«, erwiderte er. »Es ist eine Ehre.«
Sie nickte stumm und bis zu ihrem Eintreffen im Serail wechselten sie kein Wort mehr.
Der Palast war atemberaubend schön. Sie stiegen in einer marmorkühlen Vorhalle aus ihrer Sänfte und Lilya betrachtete die vielen schlanken Säulen, die das hoch über ihnen aufragende Dach der Halle trugen. Überall waren Fensteröffnungen, durch die sanft der Wind strich. Trotz der drückenden Hitze draußen war es angenehm kühl. Lilya hörte Wasser plätschern und den heiseren Ruf eines Pfaus. Die Luft trug den Duft von Rosen aus dem
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