ePub: Drachenhaut (German Edition)
der König. »Was ist es? Was benötigst du für dein Werk?«
»Zum einen freie Hand«, erwiderte der Beg. »Ich will keinen Beschränkungen unterworfen sein. Die Regelungen, die du für die Magiya in deinem Reich getroffen hast, sollen keine Geltung für mich haben.«
Der Shâya winkte ungeduldig. »Gewährt, gewährt. Weiter.«
Die Spitze des Stockes bohrte sich tief in den gekiesten Grund. Massinissa spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Was würde Kobad fordern?
»Du hast einen kopfgroßen, wasserklaren Bergkristall in deinem Besitz«, sagte der Beg leise. »Ihn verlange ich.«
»Niemals«, rief der König. »Das Auge des Windes ist das größte und heiligste der Kronjuwelen. Es gehört seit Anbeginn der Zeit zum Kronschatz. Ich kann und will es dir nicht geben.«
Der Beg nickte, als hätte er diese Antwort erwartet. »Auf ein Wort unter vier Augen, Großedler«, sagte er und hob fragend die Augenbrauen.
Der Shâya zögerte einen Moment, dann nickte er. »Lasst uns allein«, befahl er.
Aspantaman bot dem Prinzen seine Hand und half ihm auf die Füße. Sie verließen den Hof. »Was mag er im Schilde führen?«, überlegte der Erzieher halblaut.
»Es ist mir gleichgültig«, erwiderte der Prinz müde. »Kronjuwel. Wen interessiert dieser Brocken Gestein, der seit Jahrhunderten in einem Winkel in der Schatzkammer einstaubt? Wenn Kobad ihn für seine Zwecke brauchen kann, soll er ihn meinetwegen haben.«
»Du lässt es an Ehrfurcht mangeln«, sagte Aspantaman, aber er lächelte dabei und legte dem Prinzen eine Hand auf die Schulter. »Ich bin allerdings deiner Meinung ‒ wenn ich auch keine ganz so hohe Meinung von dem ehrenwerten Kobad habe. Er scheint nicht so sehr daran interessiert zu sein, dir zu helfen als vielmehr sich selbst.«
Der Prinz lehnte sich gegen eine Wand und rieb sich erschöpft über das Gesicht. »Auch das ist mir gleichgültig«, versetzte er. »Wenn er mir nur hilft. Seine Motive sind unwichtig.«
»Wenn du dich da nicht irrst«, murmelte der Erzieher.
Schweigend und voller unruhiger Gedanken erwarteten sie die Entscheidung des Königs.
B EGEGNUNGEN
Seelenbruder, noch nie zuvor habe ich mir so sehr gewünscht, dass du mir einmal, nur ein einziges Mal antwortest. Ich weiß ja, dass das ein müßiger Wunsch ist, geboren aus nichts als Verzweiflung und Angst und der Hoffnung, dass jemand kommt und sagt: Alles ist gut. Du hast nur schlecht geträumt. Sieh doch, da ist nichts in deinem Gesicht. Schau, du bist ein Mädchen wie jedes andere.
Jeden Morgen, kurz bevor ich die Augen öffne, hoffe ich, dass es so ist. In dem Moment, in dem man nicht mehr schläft, aber noch nicht ganz wach ist, höre ich deine Stimme, die mir sagt: Alles ist gut, kleine Schwester. Hörst du? Alles ist gut. Ich laufe an deiner Seite durch die Steppe, rieche das sonnenverbrannte Gras und fühle mich stark und frei, wild und unverwundbar. Aber dann werde ich wach und ich bin wieder Lilya – voller Sorge und Angst.
Es sind ja nicht nur die Zeichen in meinem Gesicht. Nachdem ich mich all die lange Zeit an die hässlichen Narben gewöhnt hatte, erscheinen mir die zarten Kringel und Schnörkel beinahe wie ein Schmuck. Mein böser Arm, der immer so gejuckt und geschmerzt hat: Die Schmerzen sind fort. Und mein böses Auge, das plötzlich gar nicht mehr schrecklich aussieht, sondern ganz und gar normal ‒ ich sollte mich doch darüber freuen, meinst du das nicht auch?
I ch müsste so glücklich sein, Seelenbruder!
Aber seit die Verwandlung passiert ist, träume ich jede Nacht von der Drachenfrau, die mir Dinge erzählt, die ich nicht hören möchte, und am Tag sehe ich Dinge, die ich nicht sehen will. Großvater holt mich jetzt jeden Abend hinauf zu sich in sein Arbeitszimmer und stellt mir Aufgaben, die ich nicht zu lösen vermag. Oder er probiert seltsame, schmerzhafte Dinge mit mir aus. Ich wollte doch immer, dass er mir erlaubt, seine Daevas genauer zu betrachten. Hätte ich diesen Wunsch doch nie geäußert! Jetzt muss ich sie anfassen und mit ihnen reden. Das geht nur stumm, von Geist zu Geist, und sie sind entsetzlich, Seelenbruder. So entsetzlich. Zwar ist ihre Gestalt grotesk und manchmal sogar ein wenig erschreckend, aber sie macht mir keine Angst. Doch ihre Gedanken und Gefühle sind so grauenhaft und abstoßend, dass ich mich regelrecht übergeben muss.
Oder Großvater versetzt mich in einen Zauberschlaf, und wenn ich aufwache, weiß ich nicht, was mit mir geschehen ist. Ich fühle mich dann
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