ePub: Drachenhaut (German Edition)
schien eine Qual für ihn zu sein.
Die Tür schloss sich hinter ihr und dem Beg. Sie fuhr herumund sagte: »Warum muss ich hierbleiben? Ich will nach Hause zurück, Baba!«
»Sei still«, fuhr ihr Großvater sie an. Er wischte sich mit einem Tüchlein übers Gesicht. »Du verstehst nicht. Es ist eine große, eine sehr große Ehre!« Er wollte ihr über den Kopf streichen, um seinen Worten ein wenig die Schärfe zu nehmen, aber Lilya bog den Kopf weg.
»Du bist so böse, seit meine Haut ...«, begann sie leise, aber der Beg legte einen Finger auf die Lippen und funkelte sie an.
»Nicht in aller Öffentlichkeit«, zischte er.
Jemand kam auf sie zu, ein Mann in schlichter Kleidung, wahrscheinlich ein Bediensteter. Er verneigte sich vor dem Beg und bat, die edlen Herrschaften in ihre Gemächer geleiten zu dürfen.
Sie folgten dem Diener schweigend. Lilya hatte kein Auge mehr für die Schönheiten der Umgebung. Sie brütete vor sich hin.
»Wer war der große Mann in den hellen Kleidern?«, fragte sie, als ihre Gedanken sie wieder zurück zum Thron und den Menschen um ihn herum führten.
»Welcher Mann?« Ihr Großvater schien ähnlich in Gedanken zu sein wie sie.
»Er hat neben dem Thron gestanden. Hinter dem Hofnarren.« Armer Junge , dachte sie. Hatte sie das Gleiche nicht vor kurzer Zeit gedacht ‒ armer Junge? Wen hatte sie damit gemeint?
»Ah, du meinst den Weißen Obersteunuchen«, unterbrach Kobad ihr Grübeln. »Aspantaman. Er ist ein einflussreicher Hofbeamter. Erzieher des Prinzen.«
Was mochte der Erzieher des Prinzen von ihr wollen?
Der Prinz. Lilya riss die Augen auf. Sie hatte gar nicht mehrdarüber nachgedacht, dass ja der rätselhafte, verwunschene Prinz sich irgendwo hier im Serail aufhalten musste. »Ist er wirklich eingesperrt?«, fragte sie.
»Wer, der Obersteunuch?« Ihr Großvater nickte zerstreut einer Gruppe von Männern zu, die in ein Gespräch vertieft durch den Säulengang flanierten.
»Der Prinz«, erwiderte Lilya ungeduldig.
Der Bedienstete, der sie führte, räusperte sich. »Eure Gemächer, Hochedle«, sagte er und öffnete eine Tür.
Sie sprachen nicht mehr über den Prinzen oder seinen Erzieher. Lilya sah sich in dem großen Gemach um, das für die Zeit ihres Aufenthaltes das ihre sein würde. Sie wunderte sich ein wenig darüber, dass sie hier, im unteren Geschoss des Serails untergebracht war, gleich neben ihrem Großvater. Das war vollkommen unüblich und in höchstem Maße unschicklich. Ajja hätte sich darüber schrecklich aufgeregt, aber Lilya fand es nur merkwürdig. Sie kannte es nicht anders, als dass die Frauen eines Hauses den Haramlik, den Harem im Obergeschoss, bewohnten und die Männer sich im Salamlik, dem öffentlichen unteren Teil, aufhielten. Der Wohntrakt der Frauen und derjenige der Männer eines Haushalts waren stets streng voneinander getrennt. Warum diese Regel nun gebrochen wurde, wusste sie nicht. Sie fragte Kobad danach, aber der murmelte nur etwas von »Studien« und »unseren Unterricht nicht unterbrechen«.Das war keine erfreuliche Antwort. Lilya hatte gehofft, dass diese unangenehmen nächtlichen Unterrichtsstunden für die Zeit ihres erzwungenen Aufenthaltes hier ausgesetzt worden wären ‒ das hätte ihr die Zeit zumindest ein wenig versüßt.
Sie fand sich irgendwann auf einem Diwan sitzend am Fensterihres Zimmers wieder. Ihre Müdigkeit war nicht geringer geworden. Sie war zu erschöpft, um sich aufzulehnen, zu protestieren oder auch nur über ihre Lage nachzudenken. Sie war nun einmal hier im Serail zu Gast und entschied sich, es ab jetzt einfach zu genießen. Dort drüben war der Klingelzug. Was immer ihr Herz begehrte, konnte sie sich bringen lassen, das hatte der freundliche Bedienstete gesagt.
Es klopfte. »Ja?«, sagte sie und fuhr unruhig prüfend mit den Fingerspitzen über ihre Maske. Sie saß fest an Ort und Stelle.
Die Tür öffnete sich und der Erzieher des Prinzen stand vor ihr. Er neigte den Kopf und sagte mit einer dunklen, sanften Stimme: »Lilya Banu? Ist es erlaubt?«
Einen Moment lang war Lilya sprachlos. Sie war allein, weder ihr Großvater noch eine Bedienstete war in ihrer Nähe. Durfte dieser Mann überhaupt das Wort an sie richten, und war es ihr gestattet, ihm zu antworten?
Dann fiel ihr ein, dass ihr Großvater den Mann als »Obersteunuchen« bezeichnet hatte, und sie wagte ein zögerndes Nicken. »Bitte, tritt ein«, sagte sie. Genau genommen war ein Eunuch ja kein Mann. Auch im Haus des Begs durften die
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