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Equinox

Equinox

Titel: Equinox Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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Filterlose baumelte von meinem Mundwinkel. Mit gespielter Routine stellte ich das Mikrofon ein Stückchen tiefer ein als bisher, ließ die Kippe zu Boden fallen, trat sie aus, fasste das Mikro mit sachter Hand, nickte Scuzzi zu, senkte das Haupt und begann.
    »Darling, won’t you please …« Träge hob ich die schweren Lider und diesmal sah ich Carla direkt an und - Die Platte sprang! Die verdammte Melodie hing fest, sprang immer wieder zurück, und auf dem Teleprompter lief surrender, surrender, surrender, surrender in verzerrter Schrift. Selbstverständlich sang ich das nicht. Schweigend richtete ich mich auf und blickte Scuzzi an, der hilflos die Arme hob und dann die Musik killte.
    Da sprang Fürst Fjodorov ein. Für den Fall, dass jemand sich für ein Elvis-Stück entscheiden sollte, das Scuzzi nicht auf Tonträger vorrätig hatte, standen ein Flügel und ein Fjodr bereit, um die entsprechende Melodie zu spielen. Er trat also vor, entschuldigte sich wortreich für die technischen Schwierigkeiten und bot an, mich durch den Song zu begleiten. Mir war nicht wohl dabei, doch eine wirkliche Alternative hatte ich auch nicht parat, also stimmte ich zähneknirschend zu. Es wurde ein Fiasko.
    »Darling, won’t you please …« Ich hatte hier eine kleine Pause für Effekt eingeplant, doch Fjodr klimperte munter weiter. Überhaupt war mir sein Tempo zu hoch. Und der Vortrag als solcher zu … lebhaft. Surrender ist ein schwüler, ein höchst verführerischer Song, ich hatte ihn mir nicht umsonst für den Schluss aufgehoben, er sollte mir Carla - in einem von fadendünnen Spaghetti-Trägern gehaltenen kleinen Schwarzen heute Abend - Carla also in my arms so warm and tender und anschließend auf die Laken treiben, und Fjodr ging hin und machte eine Art mopsfidele Polka daraus. Und dann - ich weiß bis heute nicht, wie -, aber dann tat er noch was. Und das gleich mehrmals. Er änderte die Tonart, oder was auch immer. Aber er machte es so, dass es sich anhörte, als sei ich daneben, nicht er. Und wenn ich mich anpasste, wechselte er wieder zurück, und ich stand erneut nackend in den Erbsen, wie man bei uns sagt. Im Publikum brach Gelächter aus, schrill angeführt von der verdammten Berlinerin, und mir der Schweiß. Ganz zum Schluss hatte Fjodr mich so verrückt gemacht, dass mir kurz hintereinander zwei Jodler rausrutschten, wie ich sie seit dem Stimmbruch nicht mehr hingekriegt hatte, und … es war aus. Im Abgang machte ich den doppelten Fehler, erst zu Carla zu schielen, die sich gerade die Lachtränen aus der Wimperntusche tupfte, und dann zu Jochen, der auffallend wild applaudierte und mehrmals da capo brüllte.
    Elena versuchte, mich zu trösten, doch ich war gar nicht traurig. Es war etwas anderes. Etwas ganz anderes.
    Der schmächtige Passagier gewann schließlich, mit einer tapferen, wenn auch etwas anämischen Interpretation von Love me tender, und ich beklatschte ihn nicht weniger enthusiastisch als der Rest des Publikums. Ich war die Ruhe selbst. Bis…
     
    Donnergrollen begleitete jeden meiner Schritte. Blitze umzuckten mich, Böen peitschten. Und das hatte nichts mit dem Wetter zu tun.
    »Was sollte ich denn machen?« Scuzzi hastete hinter mir her, getrieben, denke ich, von dem aussichtslosen Wunsch, mich noch aufhalten zu können. »Ja, er hat gegen den DVD-Player getreten, aber was sollte ich tun? Ihn, den Conferencier und Pianisten, vor dem ganzen Saal als Betrüger bloßstellen? Und, Kristof, das war doch alles nur Jux, und du selbst warst ja zum Beispiel Jochen gegenüber nicht unbedingt…«
    Scuzzi stoppte vehement, weil auch ich vehement gestoppt hatte. Ich hob den Kissenbezug - wir trugen beide Kissenbezüge über den Köpfen, mit ausgeschnittenen Löchern für die Augen, und ich möchte jetzt nicht gefragt werden, wessen tolle Idee das gewesen ist -, ich hob also den Kissenbezug vom Gesicht, um Scuzzi besser anstarren und mir auch mal eben die Wodkaflasche an den Hals setzen zu können, und zischte: »Du hast es gesehen, oder?« Ich ließ mir ein ordentliches Quantum reinlaufen und hielt dann das Glasröhrchen in die Zigarettenschachtel voll Glitzerpulver, das ich als Proviant mitgenommen hatte. »Du hast es gesehen, wie dieser schmierige Hund seinen Arm um sie gelegt hat? Hast du?« Ich schnorchelte eine halbe Minute lang geräuschvoll und tobte dann weiter den Gang hinunter, ohne Scuzzis Antwort abzuwarten.
    Alle hatten es gesehen. Fjodr und Carla hatten den Saal zusammen verlassen, in trautem

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