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Equinox

Equinox

Titel: Equinox Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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extra.« Doch seine Augen wichen mir aus. Bei aller Flapsigkeit plagte ihn etwas, und zwar etwas so Ungewöhnliches, dass mich die Neugier piesackte.
    »Warum«, fragte ich und hob ihn ganz, ganz langsam von den Füßen, »warum hast du dich gerade bekreuzigt?«
    Ratso plagte, was ich bei ihm nicht für möglich gehalten hätte: Ihn plagte ein schlechtes Gewissen. Doch er wäre natürlich nicht Ratso gewesen, wenn er das einfach so zugegeben hätte.
    Plötzlich, wie ich ihn so am Wickel hatte, fiel mir etwas ein, und ich ließ ihn wieder runter und, nach einem Augenblick, los.
    »Sag mal, Ratso, was ich dich schon lange fragen wollte: Haben wir eigentlich Albaner an Bord? Einen, mehrere?«
    »Jesus, Kristof«, entfuhr es ihm, und er bekreuzigte sich hastig ein zweites Mal, »Albaner? Knopfaugen? Bist du verrückt?«
    »Sicher nicht?«
    »Ganz sicher.«
    Das bereitete meiner Kryszinski/Kryvidnadse-Verwechslungs-Theorie ein jähes Ende, und ich hätte jetzt ein bisschen aufatmen können, wenn mir nicht im selben Moment etwas anderes klar geworden wäre.
    »Ich weiß, warum du dich gerade bekreuzigt hast«, stellte ich fest.
    Ratso versuchte, seiner verschlagenen Frettchen-Visage einen Streichelzoo-Kaninchen-Look zu geben.
    »Du nimmst doch Wetten an«, bohrte ich, »wen es als Nächsten … du weißt schon.« Er nickte, schüttelte dann den Kopf.
    »Stimmt, im Prinzip. Hab das Buch aber gerade im Moment nicht mit«, log er und hielt meine Hand gepackt, die es ihm gerade aus der Jackentasche ziehen wollte.
    »Und dabei«, ich sprach es langsam aus und nahm meine Hand zurück, »liegt ein gewisser Kristof Kryszinski vorne.«
    »Ich muss jetzt weiter«, behauptete Ratso.
     
    Es gibt zwei Gründe, einen Raum zu durchsuchen: um etwas sicherzustellen, was da versteckt ist, oder um sich zu vergewissern, dass etwas nicht da ist. Etwas, was niemand in die Finger kriegen darf. Und eine feine Ahnung sagte mir, dass Wassilij Kryvidnadses Kabine aus dem zweiten Grund abgesucht worden war.
    Wer immer an der Klinke gerüttelt hatte, er war noch nicht wieder zurückgekommen. Der Raum war seit meinem letzten Besuch völlig unverändert, da habe ich ein Auge für.
    Langsam ließ ich mich in einer Ecke von Wassilijs Kabine auf den Boden nieder, lehnte Kopf und Schultern gegen die kühle, vibrierende Wand und sah mich um.
    Ich wusste, intuitiv, dass mein Vorgänger oder Konkurrent beim Durchsuchen dieser Kabine Wassilijs Bücher durchgeblättert hatte, die Matratze umgedreht, die Wäsche abgetastet. Andererseits waren weder Shampoospender noch Zahnpastatube geleert worden. Was immer wir suchten, war entweder zu groß, um in eine Tube zu passen, oder es vertrug keine Feuchtigkeit.
    Letzteres, dachte ich. Es musste sich um irgendeine Form von Datenträger handeln, und zwar, damit es unter eine Schublade hätte passen können, in einem flachen Format. Eine Diskette, eine CD-ROM, ein Stück Papier.
    Wassilijs Kopfkissen versuchte mir einzureden, mein Haupt - nur für ein Minütchen - darauf zu betten käme dem Zustand völliger Seligkeit ziemlich nahe. Ich hörte nicht zu. In der Kabine, im Bett eines Toten einzupennen und dabei möglicherweise seinem Mörder in die Quere zu kommen war so ein lustiger Gedanke nicht. Hier einfach nur still zu hocken und zu starren kostete Nerven genug.
    Ich hockte. Ich starrte.
    Wo, fragte ich mich, würde ich, an Wassilijs Stelle …
    Ich hockte, starrte, dachte nach. Draußen vor dem Bullauge nur graue Suppe. Drinnen das gedämpfte Dröhnen der Diesel, das entfernte Rauschen der Lüftung, das …
    Ich fuhr hoch. Scheiße, eingenickt. Doch warte. Auf einem Zwischenlevel des Bewusstseins war mir unterwegs etwas gekommen. Ich, an Wassilijs Stelle, hätte das Versteck in Reichweite angelegt, ständig griffbereit.
    Die Schublade!
    Mit einem Satz war ich am Nachttisch, mit einem Ruck hatte ich sie raus und auf den Boden gestellt. Ich kniete mich hin. Linste hinein in die entstandene Öffnung. Alles sah ganz normal aus. Bis sich die Augen an das Halbdunkel in dem rechteckigen Hohlraum gewöhnt hatten. Dann fiel mir auf, dass die Rückwand nicht ganz die gleiche Farbe hatte wie das restliche Holz. Und wenn man dann noch mal die Schublade hochnahm, konnte man feststellen, dass sie zwar handwerklich geschickt, aber bei näherer Betrachtung doch unverkennbar ein Stück kürzer gemacht worden war. Ich langte ins Schränkchen und ein Fingerschnippen genügte, die nachträglich eingesetzte kleine Rückwand fiel um und

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