Equinox
…
Eine erste dunkle Vorahnung beschlich mich, als vor mir drei kreischende Filipinas um eine Ecke gerast kamen und mich beinahe über den Haufen rannten in panikblinder Flucht. Nur Sekunden später flitzte der Läufige Leopold in seinem Rollstuhl ums gleiche Eck. Feuerschein glühte in seinen Augen, Schaum flockte von seinen Nüstern und Rauch stieg von seinen Reifen, als er mit einem schrillen »Yee-Haaaa!« hinter den drei Mädels beschleunigte.
Eigentlich hatte ich schnurstracks zu Antonov gewollt.
Eine innere Stimme riet mir, vielleicht doch erst mal in der Pantry vorbeizuschauen. Allerdings, riet mir die Stimme weiter, wenn, dann mit Bedacht.
Eine Treppe tiefer begegneten mir zwei meiner Kochschülerinnen. Aus irgendeinem Grund drückte ich mich augenblicklich in die nächste Telefonnische. Doch es wäre wohl nicht nötig gewesen. Sie nahmen mich gar nicht wahr.
»O mein Gott«, stöhnte die eine, das blaulila Haar wild zerzaust, die Rüschenbluse schief geknöpft, ein Absatz der Halbhohen abgebrochen, mit unnatürlich geröteten Wangen bei gleichzeitig hängenden Lidern, und stützte sich auf die andere, eine der Flammenden, doch ansonsten in vergleichbarem Zustand. »Was hast du gesagt? Eschenholz? Ha! Das war Stahl, meine Liebe, blauer, federnder Stahl!«
Die andere nickte matt und blieb dann, direkt vor mir, ruckartig stehen. Ich drehte ihnen den Rücken zu und tat, als ob ich telefonierte.
»Warte!«, sagte sie. »Wir müssen noch an der Information vorbei. Ich muss mir meinen Ersatzschlüssel geben lassen.«
»Stimmt ja«, nickte die Erste. Um dann, nach einem winzigen Moment, zu fragen: »Was denn? Du auch?«
Und kichernd wie Schulmädchen machten sie kehrt und wankten davon Richtung Info-Schalter.
Die Pantry Nr. 4 war still. Totenstill. Vorsichtig schlich ich mich an die Pendeltüren heran und spähte durch eines der Rundfenster. Reines, pures, unüberbietbares Chaos. Schlimmer als bei mir zu Hause. Umgestürzte Flaschen und Gläser überall, zerdeppertes Geschirr, einzelne Schuhe, andere Kleidungsstücke. Der aufsteigende Qualm der Aschenbecher dazwischen gab der Szene etwas vom Ort eines Flugzeugabsturzes. Auf dem Boden Lachen eines rotbräunlichen Geschmiers, von dem man nur hoffen konnte, dass es sich um nichts Ernsteres als eine Mischung aus Chili und Rotwein handelte. Kasserolle und Käseschüssel lagen auf der Seite. Leer. Alle beide.
Leise schlüpfte ich durch die Tür. Glas knirschte unter meinen Sohlen. Ich war allein. Keine Spur von meinen Schülern, keine Spur von … Jochen.
Das war ein Grund zum Grübeln, ein Grund zur Besorgnis. Man mag von ihm halten, was man will, aber Jochen Fuchs wäre niemals weggegangen und hätte ein solches Chaos hinterlassen. Bisschen ein Pingel, unser Jochen.
Wie sich dann herausstellte, war er auch gar nicht weg.
Ich fand ihn in der Warmhaltekammer. Er lag, in gnädigem Halbdunkel, auf einer Werkbank. Mir stockte der Atem.
Seine Kleidung bestand nur noch aus Fetzen, ja, im Grunde war er nackt. Die zerrupfte Hose hing ihm in den Kniekehlen und von seinem Hemd waren als Einziges die Manschetten übrig geblieben. Sein Kopf war auf den ersten Blick noch dran, doch auf seiner Gurgel stand das Blut. Eine Menge Blut. In allen Tönen, von verschmiertem Rosa bis hin zu diesem Beinahe-Schwarz, wo es sich zu dickeren Pfützen sammelte und zu stocken begann. Das meiste sicherlich auf seinem Hals, doch auch ums Kinn, rings um den Mund und hoch bis zu den Ohren war einiges geschmiert, und innerlich abgelenkt von der Frage, woher mir diese Beschreibung so vertraut vorkam, knipste ich das Deckenlicht an, trat - Atem angehalten, Bauchdecke verkrampft - näher heran, bis auch die letzte Neonröhre angesprungen war und mir aufging, dass es sich bei dem Blut um Lippenstift handelte. Lippenstift in der kompletten Bandbreite aller denkbaren Töne, durchmischt mit… tja.
Jochen stöhnte. Er schlug die Augen auf, doch seine Wahrnehmung schien getrübt.
»Nein!«, keuchte er. »Nein, nicht noch …«
Dann erkannte er mich. Sah sich panisch um und seufzte erleichtert, als ihm klar wurde, dass wir allein waren.
»Das«, richtete er das Wort an mich und versuchte, sich aufzurichten, sackte wieder um. »Das war«, versuchte er es noch mal und ließ sich von mir in eine sitzende Position helfen, »das«, setzte er erneut an, von Mal zu Mal lauter und zunehmend anklagend, »das war doch nie im Leben Glutamat!« Mit schmerzverzerrtem Gesicht sah er an sich
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