Er liebt mich, er liebt mich nicht - Gibson, R: Er liebt mich, er liebt mich nicht - Daisy's Back in Town
Lilys Stimmung war am Vorabend ausgesprochen gut gewesen, und Daisy hatte sich nur zwei Mal »Earl Had to Die« anhören müssen. Einmal auf dem Hinweg zum Slim Clem’s und ein zweites Mal auf dem Weg nach Hause.
Neal stellte noch ein paar Fragen, ehe er sich wieder auf
den Weg machte. »Glaubst du, dass sie sich umbringen wollte?«, fragte Daisy ihre Mutter, als er verschwunden war.
»Natürlich nicht«, antwortete Louella stirnrunzelnd.
»Glaubst du, sie wollte Ronnie umbringen?«
»Daisy Lee, deine Schwester ist mit dem Fuß abgerutscht. Das ist alles.« Und damit war die Diskussion beendet.
Aber das war noch längst nicht alles. Nicht für Daisy. Solange Lily im Krankenhaus lag und sich womöglich mit Mordgedanken trug, konnte Daisy unmöglich am nächsten Tag abreisen, auch wenn Nathan bestimmt nicht glücklich darüber wäre.
Daisy entschuldigte sich und fand mehrere Münzfernsprecher bei den Getränke- und Süßigkeitenautomaten. Mit ihrer Telefonkarte rief sie Nathan an und bemühte sich um einen fröhlichen Tonfall, auch wenn sie keine Ahnung hatte, warum sie glaubte, fröhlich klingen zu müssen.
»Hallo, Nathan.«
»Hi, Mom.«
Sie zögerte kurz, ehe sie beschloss, nicht um den heißen Brei herumzureden. »Ich muss dir etwas sagen, was dir nicht gefallen wird.«
Pause. »Was denn?«
»Tante Lily hatte heute Morgen einen schlimmen Autounfall. Sie liegt im Krankenhaus. Ich komme morgen noch nicht nach Hause.«
Er fragte nicht, wie es Lily ging. Er war fünfzehn und hatte seine eigenen Probleme. »Das kannst du mir nicht antun. «
»Nathan, Lily ist schwer verletzt!«
»Das tut mir ja auch sehr Leid, aber du hast es mir versprochen! «
»Nathan, ich konnte doch nicht ahnen, dass Lily mit ihrem Wagen in Ronnies Wohnzimmer fährt.«
»Ich war beim Friseur! Es ist ausgeschlossen, Mom. Ich bleibe nicht hier. Gestern Abend wollten sie mich zwingen, schwedische Fleischklößchen zu essen.«
Wahrscheinlich hatten sie ihn keineswegs zu irgendetwas zwingen wollen, aber Nathan hasste schwedische Fleischklößchen und hatte beschlossen, es als Affront gegen seine Person zu sehen, dass man sie überhaupt auftischte – ein weiterer Grund dafür, dass er nicht bei diesen Verwandten bleiben konnte. Daisy zwängte sich seufzend zwischen den Fernsprecher und den blauen Wasserspender. »Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll, Nate. Ich kann deine Großmutter und Lily auf keinen Fall im Stich lassen. Schließlich bin ich nicht zum Vergnügen hier, während du zur Hölle auf Erden verdammt bist.«
»Dann komme ich eben zu dir.«
»Wie bitte?«
»Mom, es ist entsetzlich hier. Ich will lieber bei dir sein.«
Sie dachte an Jack.
»Das kannst du mir nicht antun.« Sie hörte die tiefe Verzweiflung in Nathans Stimme. »Bitte, Mom.«
Wie standen die Chancen, dass er Jack über den Weg lief, bevor sie mit ihm gesprochen hatte? Praktisch null. Wahrscheinlich würde Nathan nur bei seiner Großmutter herumhängen und den ganzen Tag fernsehen. Und was sollte schon passieren, wenn Jack und Nathan einander rein zufällig begegneten? Es bestand so gut wie keine Ähnlichkeit zwischen ihnen. Keiner würde vom anderen wissen, wer er war. Nathan hatte nie nach Jack gefragt, und sie bezweifelte, dass er sich auch nur an dessen Nachnamen erinnerte. »Na gut, wenn du unbedingt willst, hänge ich mich gleich ans Telefon und besorge dir einen Flug.«
Sein erleichterter Seufzer war nicht zu überhören. »Mom, ich liebe dich.«
»Seltsam, dass dir das immer nur dann einfällt, wenn du deinen Kopf durchgesetzt hast.« Sie lächelte. »Und jetzt hol bitte Tante Junie ans Telefon.«
Nachdem sie mit Stevens Schwester geredet und aufgelegt hatte, telefonierte sie eine Weile herum und reservierte schließlich einen Flug von Seattle nach Amarillo für den folgenden Tag. Nathan würde um sechs Uhr morgens losfliegen und von Dallas aus nach drei Stunden und vierzig Minuten Aufenthalt weiterfliegen nach Amarillo, wo er dann erst gegen fünf Uhr nachmittags eintraf. Sie überlegte, ob sie nach Dallas fahren und ihn abholen sollte, aber die Fahrt dauerte sechs Stunden pro Weg. Vielleicht könnten sie in Dallas übernachten, nach Fort Worth und Cow Town fahren und Gegrilltes essen. Je länger sie über die Idee nachdachte, umso besser gefiel sie ihr. Sie brauchte Urlaub von ihrem Urlaub. Doch als sie Nathan erneut anrief, meinte er, er würde lieber drei Stunden im Flughafen von Dallas-Fort Worth herumhängen, als gegrilltes Fleisch zu
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