Er liebt mich, er liebt mich nicht - Gibson, R: Er liebt mich, er liebt mich nicht - Daisy's Back in Town
suchen, damit man nicht schrie und zusammenbrach, sich immer schön auf regelmäßige Atemzüge konzentrieren, um auch weiterhin so tun zu können, als läge ihr Mann nicht im Sterben. Oder als läge ihre Schwester nicht mit verkrustetem Blut in ihrem schönen blonden Haar in einem Krankenhausbett.
Sie griff nach dem Reader’s-Digest -Heft und schlug die Seite mit der Rubrik »Humor in Uniform« auf.
»Sie war so weiß im Gesicht«, sagte Louella mit zitternder Stimme. »Und da war so viel Blut.«
»Kopfverletzungen bluten immer stark, Mom.« Ihre Stimme klang so gefasst. Als bebe sie nicht innerlich in jenem Teil ihres Inneren, wohin sie derartige Erlebnisse verdrängte. Ganz tief im Inneren, wo sie all das unter Kontrolle hatte. Mittlerweile hatte sie großes Geschick darin entwickelt, ihre Gefühle in sich hineinzufressen und innerlich taub zu werden. Dinge, die sie trafen, nicht zu dicht an die Oberfläche kommen zu lassen, denn wenn das passierte, verlor sie die Beherrschung. Wie heute bei Jack.
»Woher weißt du das?«
»Steven«, antwortete sie und konzentrierte sich noch mehr auf ihre Lektüre. Sie wollte jetzt nicht an Jack denken. Sie würde sich ihm stellen müssen, ihm und den Folgen dessen, was sie getan hatte, aber nicht heute. Dieses
Problem stand an zweiter Stelle ihrer Prioritätenliste, während Lily und eine mögliche Mordanklage auf den ersten Platz rückten. Sie fragte sich, wie viel ein wirklich guter Psychiater inzwischen kosten mochte.
»Warum sagt man uns denn nichts?«
»Sie wissen noch nichts Genaues.«
Ein Polizeibeamter betrat das Wartezimmer und fragte, ob sie mit Lily verwandt wären. Er hatte einen militärisch kurzen Haarschnitt, trug eine blaue Uniform und sah aus, als wären dreihundert Liegestütze eine Lachnummer für ihn. Er stellte sich als Officer Neal Flegel vor. »Ich bin mit Lily und Ronnie auf die Highschool gegangen«, erklärte er.
»Dann musst du Matts jüngerer Bruder sein.« Daisy schüttelte ihm die Hand. »Ich bin mal mit Matt zu einem Schulball gegangen. Wohnt er noch in Lovett?«, fragte sie – schließlich waren sie hier in Texas, wo gutes Benehmen Vorrang vor Notfällen hatte.
»Er ist gerade von San Antone wieder hierher gezogen. Ich richte ihm aus, dass du nach ihm gefragt hast.« Er zückte sein Notizbuch und wurde sachlich. »Ich war ehrlich entsetzt, als ich Lily in dem Wagen gesehen habe.« Er berichtete, dass Lilys Taurus sich anderthalb Meter in Ronnies Wohnzimmer gebohrt habe, bevor er zum Stehen gekommen sei. Und während Daisy sich fragte, wie sie möglichst unauffällig herausfinden konnte, ob Lily Ronnie getötet hatte, fragte Neal Flegel: »Haben Sie beide Grund zur Annahme, dass sie es absichtlich getan hat?«
In Wahrheit hatte Daisy nie etwas anderes vermutet. »Nein.« Sie schüttelte den Kopf und bemühte sich um einen verdutzten Gesichtsausdruck. »Es kann nur ein Unfall gewesen sein.«
»Wahrscheinlich ist sie mit dem Fuß abgerutscht«, meinte Louella, und Daisy hätte nur zu gern gewusst, ob ihre
Mutter diese Möglichkeit für wahrscheinlicher hielt als sie. »Außerdem«, fuhr Louella fort, als wäre ihr in dieser Sekunde etwas Wichtiges eingefallen, »hatte sie in letzter Zeit oft diese Migräneanfälle, die ihr Sehvermögen beeinträchtigt haben.«
»Wir haben mit Ronnie gesprochen, und er sagt, sie hätten in letzter Zeit häufig gestritten.«
»Du hast heute mit Ronnie gesprochen?« Vor Erleichterung hätte Daisy beinahe aufgelacht. »Nach dem Unfall?«
»Wir haben ihn bei seiner Freundin angetroffen.«
»Also war er gar nicht zu Hause?«
»Zum Zeitpunkt des Unfalls war niemand im Haus.«
»Gott sei Dank«, seufzte Daisy. Ihre Schwester würde nicht wegen Mordes schmoren müssen. Sie waren hier in Texas, und Texas war der denkbar ungünstigste Ort, um einen Mord zu begehen. Andererseits waren weibliche Geschworene in Texas grundsätzlich geneigt, der Frau eines untreuen Frauenhelden Sympathie entgegenzubringen.
»Ist sie selbstmordgefährdet?«, fragte Neal.
Daisy und ihre Mutter starrten ihn wie vom Donner gerührt an. Lily mochte deprimiert und sauer sein, aber Daisy konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie sich umbringen wollte. Höchstens Ronnie.
»Nein«, antwortete Louella. »Sie hat gerade eine Stelle in Albertsons Feinkostgeschäft bekommen. Alles fing an, sich zum Guten zu wenden.«
»Ich war gestern Abend mit ihr zusammen, und da ging es ihr gut«, fügte Daisy wahrheitsgemäß hinzu.
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