Er war ein Mann Gottes
reizten, kam er uns wie einer der Oberministranten vor, die ihm in Körpergröße und Benehmen ähnelten. Schwärmerisch fühlten wir uns wie Geschwister im Geiste.
Assisi
Wie geplant, brachen wir am zweiten April mit dem Zug nach Assisi auf. Als große Gruppe und gut gelaunt, waren wir über mehrere Abteile verteilt, zwischen denen wir je nach Lust und Freundschaften wechselten, Bücher und Musik, Süßigkeiten und Plätze tauschten.
Unsere Ministrantinnengruppe setzte sich aus mehreren Schwesternpaaren und seit Kindergartentagen fest verschworenen Freundinnen zusammen, die fast alle aus den angesehenen und wohlhabenden Familien unserer Stadt stammten. Da wir noch keine Oberministrantinnen hatten, waren uns volljährige Betreuerinnen zugeteilt worden, die sich der Kirche eng verbunden fühlten und ebenfalls aus unserem Ort kamen. Fast alle waren Abiturientinnen, Studentinnen oder bereits erwerbstätige junge Frauen. Da sie entweder bei uns an der Schule, im Kirchengemeindewesen oder im Kirchenchor waren, kannten wir sie.
Frederic führte sowohl über uns als auch über die Jungengruppe die Oberaufsicht. Letztere wurden zusätzlich von Oberministranten betreut, so dass unser Vikar Zeit hatte, sich uns weiblichen Neulingen zu widmen.
Gleich an diesem Anreisetag erhielt ich eine Ahnung davon, dass meine Sehnsucht nach einem Freund, der nur für mich alleine da sein würde, in Frederic nicht erfüllt werden würde. Estefania, eine der Abiturientinnen, schien ihm weit besser zu gefallen als ich. Trotz ihrer achtzehn Jahre war sie nur etwa so groß wie ich. Im Gegensatz zu mir hatte sie brünettes Haar und einen südländischen Teint.
Kaum im Zug, begann sie ganz ungeniert mit Frederic zu flirten. Dauernd hing sie an seinem Arm und setzte sich so eng neben ihn, dass er sein Handy nicht aus der Hosentasche ziehen konnte, als es klingelte. Anstatt sie auf Abstand zu halten, schien ihm ihr Benehmen zu gefallen.
Kurz vor der Grenze nach Italien kam der Zugschaffner zur Fahrscheinkontrolle und wollte auch unsere Pässe sehen. Die meisten von uns hatten nagelneue Reisepässe und fingen an, die überzähligen Passbilder miteinander zu tauschen, die wir zur Erinnerung in unsere Tagebücher kleben wollten. Bald hatte jede von uns eine Handvoll zusammen. Nur zu gern hätten wir alle auch ein Foto von Frederic gehabt, doch keine traute sich, ihn danach zu fragen. Keine, außer Estefania. Wie sie bettelte und schmeichelte und ihm dabei ihr eigenes Bild aufdrängte! Ich hatte das Gefühl, als müsste ich laut schreien.
Vielleicht hatte Frederic etwas von meinen Empfindungen bemerkt. Ich weiß es nicht. Jedenfalls nahm er Estefania seinen Pass aus der Hand, den sie die ganze Zeit betrachtet und uns anderen im Abteil gezeigt hatte, damit auch wir sehen sollten, wie süß unser Vikar vor ein paar Jahren ausgesehen hatte. Dabei stand er auf, lachte mich an und fragte wie im Scherz, ob ich ihm nicht auch ein Passbild verehren wolle.
Siedend heiß fiel mir meine zu Hause gebliebene Freundin Tessa ein, die von Frederic kurz vor unserer Abreise um ein Passbild gebeten worden war. »Ich glaub, jetzt geht’s los!«, hatte sie sich empört und mir später gesagt, dass sie wegen dieses Passbildes trotz ihrer ursprünglichen Anmeldung nicht nach Assisi mitfahren würde. »In diesen superheiligen Kreisen und mit diesem komischen Vikar, nee du, da fühle ich mich nicht wohl!« So oder so ähnlich hatte sie es formuliert.
Und natürlich hatte ich protestiert. Frederic und komisch? Wenn einer komisch sei, dann allerhöchstens sie. Solle sie doch daheim sitzen und Trübsal blasen. Ich würde mich davon nicht beirren lassen. Überhaupt sei sie die längste Zeit meine Freundin gewesen, wenn sie etwas gegen Frederic habe.
Als sie ging, wussten wir beide, dass nach meiner Heimkehr aus Assisi nichts mehr zwischen uns so sein würde wie zuvor.
Und jetzt wollte Frederic ein Passbild von mir. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Er, der Vikar, der haushoch über mir stand, und ich, das dumme Ding von zwölf Jahren. Wer war ich denn, dass er ein Bild von mir wollte? Aber wenn ich ihm keines geben würde, wäre er sicher beleidigt und würde sich nur noch um Estefania, diese blöde Striezel, kümmern. Würde ich ihm jedoch ein Bild geben, könnten sie sich zusammen über mich lustig machen. Was sollte ich tun?
Wahrscheinlich war es EstefanIas Grinsen, das mir Mut verlieh zu sagen: »Gut, wenn du mir ein Passbild von dir gibst, kriegst du
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