Er war ein Mann Gottes
Leben, so erwartungsvoll und neugierig auf die aufregenden, spannenden Wunder, die es für mich bereithalten würde. Wie fühlte ich mich geehrt, dass unser Vikar mit mir über »seine« Erwachsenen-Musik fachsimpelte.
Hätte mir jemand gesagt, dass Priesteramtskandidaten während ihrer Ausbildung lernen, sich den Weg zu den Herzen der Jugendlichen über Musik zu erschließen, hätte ich ihm den Vogel gezeigt. Niemals hätte ich geglaubt, dass die Musik für Frederic Mittel zum Zweck der Verführung war.
Tatsächlich ist es ein probates Mittel und wesentliches Instrument der Jugendseelsorge, sich mit den jungen Menschen, deren Herzen für die Kirche gewonnen werden sollen, auf eine Ebene zu stellen, sie in ihren Interessen dort abzuholen, wo sie stehen, und sie dann mitzunehmen zu den höheren Dingen des Herrn. Aber woher sollte ich das wissen?
Ich fand es einfach nur wundervoll, dass Frederic mir seine Musik vorspielte, mich nach meinem Musikgeschmack fragte und mich in meiner naiven Einfalt nicht auslachte. In mir glühte alles vor Eifer, Begeisterung und Entzücken. Und natürlich wollte ich ihn nicht enttäuschen. Wenn er mir schon seine kostbare Zeit widmete, sollte er hinterher nicht bedauern, sich mit mir dummem Ding abgegeben zu haben. Also gab ich mir Mühe, ernsthaft zuzuhören und möglichst gescheit zu antworten, wenn er ein Stichwort in den Raum warf oder mich etwas fragte. Ich wollte ihm so sehr gefallen.
Dass ich Gitarre spielte und gut singen konnte, war stadtbekannt. Auch Frederic wusste es. Mein Talent hatte er während unserer Ministrantentreffen und in der Fastentzeit kennen gelernt, die bei uns im Schwarzwald mit uralten heidnischen Bräuchen, klirrenden Schellen, aufgeblasenen Schweinsblasen, den »Hästrägern« in Tier-, Teufel- und Hexengestalt mit geschnitzten Masken sowie mit schräger »Guggenmusik« gefeiert wird. Und natürlich hatte er auch erfahren, dass ich Ballett tanzte, Klavier und Orgel spielte und im Kirchenchor sang.
Da er ebenfalls Gitarre spielte und als Priester Gesangsunterricht bekommen hatte, führte er mir an jenem ersten Abend in seinem Zimmer sein teures Instrument vor. Gekonnt schlug er Akkorde aus den BAP-Liedern an, sang den einen oder anderen Takt dazu, animierte mich mitzusingen und den Rhythmus zu klatschen und baute auf diese Weise meine anfängliche Zurückhaltung ab.
Seine so ganz andere Musik war bisher kein Thema für mich gewesen. In meiner Familie war »so was« als »Hottentottenmusik« verpönt. Nur »geistig Minderbemittelte« gäben sich damit ab, wie mein Vater meinte. Wer auf sich hielte, wisse, dass das alles Nichtskönner seien, die solchen Schund fabrizierten. Volksverdummung sei das.
Für Frederic waren diese Äußerungen meiner Eltern nur Grund zum Lachen. Ich müsse mir »seine« Musik mal richtig anhören, dann würde mir klar werden, wieso meine Eltern sie nicht leiden könnten. Auf den Beat solle ich mich einlassen, auf das Feeling, die Emotions, den Drive. Fallen lassen solle ich mich in den Rhythmus, mich ganz davon entführen lassen. Tanzen, gerade so, wie es mir in den Bauch käme. Nicht wie im Ballett, nicht nach Regeln. Meine innere, eigene Welle sei die wahre Musik.
Staunend hörte ich ihm zu. Vorsichtig ließ ich mich auf die Musik ein, um sie mit seinen Ohren zu hören, seinem Feeling zu erfassen, sie zu meiner zu machen und auf einmal mit ihm auf einer Wellenlänge zu liegen. Herrlich!
Es sei doch normal, erklärte er mir, dass Eltern so negativ auf alles reagierten, was die Jungen toll fänden. Sie hätten eben keine Beziehung zu den neuen Dingen. Sie wären alt. Das müsse man respektieren. Der Herr gebiete, dass man seine Eltern ehren müsse. Trotzdem müsse die Jugend ihren eigenen Weg gehen.
Steine nahm er mir damit von der Seele. Er machte mir klar, dass ich ein Recht darauf hatte, so zu sein, wie ich nun einmal bin.
Später schien es mir, als habe er bereits an diesem ersten Abend die Basis dafür geschaffen, dass ich nicht unter meineM schlechten Gewissen zusammenbrechen musste, wenn ich mit ihm die Erziehungsvorstellungen meiner Eltern überschreiten würde.
Entfremdung von den Eltern
Nach jenem Abend bei Frederic kam es mir so vor, als sähe ich meine Eltern erstmals wirklich. Plötzlich merkte ich, dass es stimmte, was Frederic gesagt hatte. Sie waren zwar erst Mitte fünfzig, und bis vor wenigen Tagen hatte mich ihr Alter gar nicht interessiert. Jetzt registrierte ich, dass mein Vater eine Glatze hatte
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