Er war ein Mann Gottes
seinen Worten beschreiben kann. Um seinetwillen habe ich mich in die verwinkelten Gassen, die steilen Treppenfluchten und Nischen dieser Stadt verliebt. Und aus demselben Grund werde ich diese Stadt nie wieder besuchen können.
Wie oft saß er mit seinem Laptop bei uns auf den Treppenstufen der Basilika und las uns aus seinen eigenen Reisebeschreibungen vor. Dabei ermutigte er uns, es selbst zu versuchen und regelmäßig eigene Beobachtungen in unsere Reisetagebücher einzutragen. »Diese Stadt ist faszinierend. Ihr werdet von ihr verändert, ob ihr es wollt oder nicht. Sie ist wunderbar. Haltet alles fest, was ihr hier denkt und fühlt. Ihr werdet es nie wieder so erleben.«
Wechselbäder der Gefühle
Während unsere Aktivitäten am Tag ganz vom Gedanken der Pilgerfahrt geprägt wurden, gehörten die Abende uns. Zu Hause hatten wir uns ausgemalt, dass wir wohl wie Mönche und Nonnen im Kloster untergebracht sein würden. Jetzt zeigte sich, dass wir in einem klösterlichen Gästehaus außerhalb der Mauern Quartier nahmen, wo wir jeweils in Dreibettzimmern schliefen.
Die Mahlzeiten des Tages wurden zwar in der Klosterküche zubereitet und von Laienbrüdern serviert, wir nahmen sie jedoch in einem Speisesaal ein, der auch anderen Gästen offenstand. Abends zogen wir dann in kleinen Gruppen los, um die Stadt unsicher zu machen.
Wer mit wem zusammen sein wollte, stand jedem von uns frei, so dass wir meist mit denjenigen loszogen, mit denen wir auch zu Hause am liebsten zusammen waren. Unsere Betreuerinnen und Betreuer schlossen sich uns so zwanglos an, dass wir ihre Betreuungsaufgabe kaum wahrnahmen.
Natürlich war es kein Zufall, dass Estefania, Frederic und ich uns jeden Abend trafen. Entweder zogen wir von Anfang an in einer gemeinsamen Gruppe los, oder wir trafen uns erst im Laufe des Abends, wenn wir die Gassen durchstreiften, hier ein bisschen bummelten, Schaufenster »watchten« oder »shoppten«, dort ein Eiscafé oder eine Boutique mit Tingelkram aufsuchten, die Ansichtskartenstände durchstöberten, Fotos schossen und all das trieben, was fröhliche junge Touristen lieben. Sobald wir aber auf Frederic stießen, stürmten wir sofort die nächste Bar.
Ich genoss die herrlichen Tage in Assisi. Trotzdem empfand ich sie auch als anstrengend. Seit dem neckischen Spiel mit den Passfotos begriff ich ganz plötzlich, dass ich mich schwärmerisch in Frederic verliebt hatte. Er war mein erster Gedanke, wenn ich erwachte, und der letzte, wenn ich einschlief. Ich verehrte ihn. Ich himmelte ihn an. Ein Lächeln von ihm ließ mich schweben. Wenn er mich nicht beachtete, traf es mich wie ein Messerstich.
Damit meine ich nicht, dass ich ihn begehrte oder sexuelle Phantasien hatte. Ich befand mich damals am Anfang der Pubertät. Und ganz sicher hatte ich sexuelle Gefühle. Aber sie waren zart wie Knospen in einer noch unaufgebrochenen Hülle. Sie entsprachen nicht den leidenschaftlichen Gefühlen eines Erwachsenen.
Ich wünschte mir zwar, dass Frederic mich ebenfalls lieb hätte und in den Arm nehmen würde, aber ich träumte nicht einmal von einem Kuss. Er sollte mein Freund sein, sollte zu mir gehören. Er sollte mich in der Seele lieben, so wie ich ihn in der Seele liebte.
Dass die Liebe einen körperlichen Anteil hat, war mir zwar bewusst, aber ich empfand diesen Anteil nicht als Frau, sondern als soeben erst zum Bewusstsein der eigenen Weiblichkeit erwachendes Kind.
In jedem einzelnen Augenblick gab ich mir die allergrößte Mühe, Frederic keinen Anlass zur Unzufriedenheit zu bieten. Doch wie liebenswürdig, hilfsbereit, dienstbeflissen, zuvorkommend, selbstlos ich mich auch verhielt, es war ihm anscheinend nie genug. »Das ist nicht wahrhaft franziskanisch«, pflegte er mich zu tadeln. »Wir sind hier, um dem Heiligen nachzueifern. Wir wollen von ihm lernen, dass wir alle eins sind. Ich und Du, das war für ihn in Gott zu einem Wir geworden. Jeder Grashalm war für ihn ein Bruder. Hört auf, immer an euch selbst zu denken. In Assisi lebt der Geist der wahren Liebe. Ihr sollt ihn einatmen, trinken, essen, bis ihr ganz davon erfüllt seid. Dann erst seid ihr franziskanisch.«
Ich gab mir die größte Mühe, franziskanisch zu denken und zu fühlen. Aber als Vorbild stand mir Frederic, nicht der Heilige vor Augen. Und dieses Vorbild verstand ich nicht.
Warum schien Frederic in einem Moment mein bester Freund und ernsthaft an mir interessiert zu sein, während er mich im nächsten Moment eiskalt links liegen
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