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Er war ein Mann Gottes

Er war ein Mann Gottes

Titel: Er war ein Mann Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Jäckel
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und meine Mutter viele Falten um den Mund. Auf einmal waren sie alt und altmodisch.
    Frederic hatte recht, sie waren in einem Kokon aus falschen Werten eingeschlossen, weil sie sich dauernd fragten, was die Leute von ihnen denken würden. Sie konnten nichts dafür, aber so waren sie nun mal.
    Sie wussten nichts von Frederics Aufruf an uns, den er Franz von Assisi nachempfunden hatte: »Zurück, Menschen! Zurück zum einfachen Leben, zu den einfachen Dingen des Lebens! Zurück zu Güte, Freundschaft, Zufriedenheit!«
    Frederics Erkenntnis: »Nicht Besitz macht reich, sondern Freude!«, war nicht die meiner Eltern.

    Meine Eltern könnten mich nicht verstehen, dozierte Frederic. Sie wären zu alt gewesen, als ich auf die Welt kam. Meine Mutter hatte eine Hormonbehandlung über sich ergehen lassen, damit ihr Herzenswunsch nach einem Kind erfüllt würde. Das heiße, Gott ins Handwerk pfuschen, Kinder sollten junge Eltern haben, meinte Frederic. Ich dürfe gar nicht erst erwarten, dass meine Eltern mich verstehen würden. Sie hätten mich lieb, ganz bestimmt. Aber verstehen, nein.
    Ich sei ein ganz ungewöhnliches Kind, sagte er. Eine, die nach den Dingen hinter den Dingen suche. Eine, die besonders reif für ihr Alter sei. Eine, die meine Eltern so gern zur Mitläuferin erziehen würden, obwohl ich, wie Frederic mich lehrte, gegen den Strom schwimmen müsse, weil man nur so an die Quelle gelange. Es sei ganz klar, dass eine wie ich, die nun mal anders als andere Kinder sei, für meine Eltern doppelt schwer zu verstehen wäre.
    Ich war so traurig gewesen, weil meine Eltern mich immer mit allem alleingelassen hatten. Jetzt endlich — mit Frederics Hilfe — begriff ich, dass sie nichts dafür konnten.
    Ich verzieh ihnen, dass sie nichts von aktueller Musik verstanden, weder unseren Klamottengeschmack teilten noch unser Faible für verrückte Frisuren. »Vielleicht würden sie es ja wollen«, dachte ich nachsichtig. »Sie können es nur einfach nicht. Sie sind zu weit von uns entfernt.«

    Allein Frederic schien uns Kinder und Jugendliche, schien mich zu verstehen, weil er nicht wie meine Eltern war, sondern mit Jesus Christus über den Tellerrand der Spießbürger und Pharisäer schaute.
    Seine Musik wurde für mich zum Inbegriff meiner Andersartigkeit gegenüber meinen Eltern, wurde zum Beweis seiner und meiner Gleichheit, unserer innersten, untrennbaren Verbundenheit.
    Als Folge davon gab ich gegen den ausdrücklichen Wunsch meiner Eltern meinen Klavier- und Orgelunterricht sowie das Ballett auf und begann, in die Identität der Frauen zu schlüpfen, die Frederic für ihre Musik bewunderte. Stundenlang übte ich, wie Nena, Cher oder Tina Turner zu singen. Ihre Ausgeflipptheiten faszinierten mich, weil sie ihn faszinierten. Sie zu kopieren übertrug seine Bewunderung für sie auf mich.

    Natürlich hatte es unter uns »Minis« oder in meiner Klasse immer auch andere gegeben, die ähnliche Musik liebten wie Frederic. Diejenigen, die sich wie ich mit Klassik abgegeben hatten, waren immer entschieden in der Minderheit gewesen. Ob dieses gemeinsame Interesse für sie ebenso bedeutsam wurde wie für mich, kann ich nicht sagen. Sicher scheint mir, dass die Musik für uns alle zu einem der wesentlichen Elemente wurde, die die Solidarität unseres bewunderten Vikars mit uns symbolisierte.
    Dass er nicht wie wir frisiert sein durfte und ständig in seinem blau-grau-schwarzen Einheitslook mit geschnürten Haferlschuhen oder braunen Birkenstocklatschen gekleidet war, verstanden wir. So war nun mal die Kirchenobrigkeit. Dagegen konnte er nichts machen. Schließlich war er ein Mann Gottes.

    Dieses Gefühl wurde noch verstärkt, als wir zu entdecken meinten, dass Frederic gegenüber Herrn Pfarrer Punktum in einer ganz ähnlichen Lage war wie wir Jugendlichen den Eltern gegenüber.
    Genau wie wir jungen Leute mit unserer Vorliebe für laute, schrille, »geile« Klänge gegen den uns »gruftig« erscheinenden Musikgeschmack unserer Eltern rebellierten, so schien er sich damit dem ehrwürdigen Geschmack des gestrengen Pfarrers und somit beinahe Gott Vater selbst zu widersetzen.
    Wie von selbst machte die gemeinsame Musik aus ihm, dem Erwachsenen, auf seltsame Weise einen von uns. Dazu trug bei, dass er uns erlaubte, ihn bei seinem Vornamen zu nennen, und er uns in derselben Küsschen-Küsschen-Manier begrüßte wie wir uns untereinander. Wenn er mit uns witzelte, über Pauker herzog und über Passanten kicherte, die uns zum Spott

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