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Er war ein Mann Gottes

Er war ein Mann Gottes

Titel: Er war ein Mann Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Jäckel
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Pfarrei eingetroffen. Dürr, semmelblond und sommersprossig, mit einem Adamsapfel, der an seinem schmächtigen Hals beim Sprechen auf und ab hüpfte, wurde er uns von Pfarrer Punktum und Frederic als der Dritte im Bunde vorgestellt. Künftig sollte er sich der kompletten Ministrantengruppe annehmen und unseren Vikar für andere kirchliche Aufgabenbereiche freistellen.
    Bei den jüngsten Buben aus der Ministrantengruppe kam der Neue spontan gut an. Sie fanden ihn toll, weil er mit ihnen Fußball spielte, ins Schwimmbad ging und auch mal bei den Pfadfindern gewesen war. Alles Aktivitäten, für die Frederic nicht zu begeistern gewesen war.
    Von mir aus sollten die Jungs den Kaplan haben, hatte ich gedacht. Meiner Meinung nach konnte er Frederic nicht das Wasser reichen. Es erschien mir geradezu anmaßend von ihm, unseren Vikar ersetzen zu wollen.
    Ich hatte deshalb schon begonnen, Mehrheiten innerhalb unserer Mädchengruppe zu aktivieren, um diesen »Deppen« schnellstens wieder loszuwerden. Die Aktion »Pro-Frederic« hatte begeisterten Anklang gefunden. Wir fühlten uns wie Siegerinnen. Ganz gewiss würden wir uns gegen Pfarrer Punktum durchsetzen und unseren tollen Vikar zurückbekommen.

    Als ich ausgerechnet ihn auf der Treppe anrempelte, wäre ich am liebsten im Sturzflug an ihm vorbeigerast. Mein »Grüß Gott!« fiel kurz und unfreundlich aus. Ich wollte nichts wie weg.
    Statt mir den Weg freizugeben, hielt er mich jedoch am Arm fest. »Was ist los mir dir, Cora? Ist etwas geschehen? Du siehst ja völlig fertig aus.«
    Ein dicker Kloß schob sich in meinen Hals.
    »Ist es wegen Frederic? Ich kann dir helfen, Cora.« Der Kaplan blieb stehen, so dass ich mich zu ihm umwenden musste. Seine Augen waren sehr blau und mitleidig. »Du musst dir aber auch helfen lassen.« Immer noch hielt sein Blick mich fest. »Willst du das? Brauchst du Hilfe, Cora? Soll ich dir helfen?«
    »Ja.«
    Ich antwortete wirklich mit Ja.

    Ich glaube, ich weinte nicht einmal, als ich dem Kaplan folg. te und ihm in seinem Zimmer alles anvertraute, was mir mit Frederic widerfahren war.
    Max Dobels dunkel dezente Kleidung, sein still gesammeltes Lauschen, seine gefalteten Hände auf dem Tisch, die mich nicht berührten, sein ganzes Auftreten, alles entsprach so vollkommen der Stimmung, die eine Beichtstunde kennzeichnet, dass meine Beichte so selbstverständlich geschah wie das Atmen.
    Ich fühlte mich nur müde, als er mich mit der vertrauten Formel der Lossprechung: »Gehe hin in Frieden und sündige fortan nicht mehr« entließ.
    Frederic habe ich seit jenem Tag niemals mehr gesehen. Zu Hause war ich in einem Nervenfieber zusammengebrochen. Als ich Wochen später erstmals wieder zur Schule und zur Frühschicht kam, erfuhr ich, dass unser Vikar in der Kirchenhierarchie befördert und als eigenständiger Pfarrer in eine andere Pfarrei im Bayerischen versetzt worden war. Die Gemeinde hatte ihn in einem feierlichen Akt verabschiedet.

Pläne versinken. Zukunft verschwimmt.

    Als Erstes legte ich mir ein neues Tagebuch zu. Frederics Kettchen mit dem Kreuzanhänger, das ich früher Tag und Nacht getragen hatte, verschwand im Nirgendwo. Das große »F«, das ich mir mit Tinte zum ewigen Gedenken an seinen Namen in die Handfläche gestochen hatte, verblasste. Und die »Heiligtümer« seiner Geschenke, die er mir im Laufe der Zeit verehrt hatte, verschwanden aus meinem Zimmer.
    Schweigend hatte ich sie zu meinem Vater in den Garten crebracht, wo er ein Feuer unterhielt, um den Heckenschnitt zu verbrennen. Ebenso stumm hatte er die fromm anzusehenden Kerzen, das Holzkreuz, allerlei Heiligenbildchen und anderen scheinbar unbedeutenden Tand entgegengenommen. Als die Kerzen schmolzen, stiegen dünne schwarze Rauchwölkchen aus dem Feuer. Es sah aus wie Trauerflor. Ich wandte mich ab.
    »Da hast du was!«, brummte mein Vater. Er hielt mir ein Taschentuch hin. »Der Rauch beißt in den Augen, gell?«
    Ich nickte.

    Was blieb, waren meine ständigen Bauchschmerzen, meine Todessehnsucht, der Alkohol und die Zigaretten, die Erinnerungen an etwas, von dem ich nur wusste, dass es Sünde gewesen war, die Albträume, in denen die vielen, vielen »innigen Gespräche« und meine letzte Begegnung mit Frederic lebendig zu werden schienen, und die Tabletten, die ich immer mal wieder zu reichlich, doch nie reichlich genug nahm. Und natürlich die Kirche und die Jungs, mit denen ich mich manchmal einließ, weil ich nur so demonstrieren konnte, dass Frederic für mich

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