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Er war ein Mann Gottes

Er war ein Mann Gottes

Titel: Er war ein Mann Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Jäckel
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immer mehr zusammen. Frederics Zorn über meine Verweigerung hatte etwas Rachsüchtiges. Selbst wenn wir in einer Gruppe nach der Spätschicht beisammenstanden, schien er mich nicht zu bemerken, sondern ließ mir über andere ausrichten, was ich für den nächsten Ministrantendienst zu erledigen hätte.
    Immer öfter grübelte ich über den Sinn des Lebens nach. Frederics Vorstellung von der ewigen Glückseligkeit in einem Leben nach dem Tod verselbständigte sich in mir. Wie herrlich müsste ein Leben sein, in dem alles eitel Schmusen und Lieben ist und der Apfel nicht mehr das Sündenzeichen für den Koitus, sondern Symbol der unbefleckten Empfängnis.
    Der wahre Sinn des Lebens müsse der Tod sein, phantasierte ich. Leben bedeute Sterben, Tod bedeute Geburt ins wahre Leben. Wie schön wäre das. Ich hatte wenig Ahnung von Geschichte. Im Unterricht passte ich selten auf. Trotzdem erinnerte ich mich dunkel, dass man im Mittelalter geglaubt habe, das Leben sei die Strafe Gottes, das Sterben die Vergebung und der Tod das wahre Leben. Ich wünschte, mir würde so vergeben. Ich wünschte mir zu sterben, und Betrunkensein war ein bisschen wie Sterben.

    Auf einem der vielen Hüttenwochenenden, die wir als Ministrantengruppe zusammen im meditativen Bibelgespräch verbrachten, hatten wir den ganzen Tag mit irgendwelchen Psychospielchen, Bibelauslegungen, Andachten und Gebeten verbracht. Zuletzt hatten wir eine Wäscheleine quer durch die Stube gespannt, und jeder hatte ein Beutelchen mit seinem Namen daran aufgehängt. Dahinein sollte jeder von uns demjenigen einen Zettel mit einer beliebigen Botschaft stecken, dem er etwas mitteilen wollte. Am Ende hatten alle ihre Beutelchen geleert und einander gegenseitig die ihnen zugekommenen Botschaften vorgelesen.
    Ich hatte mir das Hirn zermartert, was ich Sinnvolles schreiben könnte, und für fast alle einen Zettel geschrieben. Manche hatten zehn Zettel und mehr bekommen. In meinem Beutel befand sich nur ein einziger. Darauf war ein Huhn. Franziska grinste mich blinzelnd an, als ich es betrachtete. Sie hatte es gut gemeint. Ich versuchte, mich zu freuen.
    Die ganze Zeit, während die Wäscheleine gespannt und die Zettel geschrieben wurden, hatte ich Frederic und Estefania beobachtet. Ständig steckten sie die Köpfe zusammen. Immerzu hatten sie etwas zu tuscheln und zu lachen. Ich konnte kaum atmen vor Eifersucht. Inzwischen konnte ich mir eingestehen, dass es dieses Gefühl war. Seit ich mit Tim zusammen war, fiel es mir leichter, meinen Empfindungen Namen zu geben. Vielleicht, weil er mir seine eigenen so oft mitteilte.
    Es half nichts, dass ich mir einredete, kein Recht zur Eifersucht zu haben. Ich zwang mich sogar zu beten, während ich ihnen zusah. Es blieben eher Gebetsfetzen. Mein Ich sah zu, wie Estefania über Frederics Jackenärmel streichelte und er sie anlächelte. Bestimmt füßelten sie unter dem Tisch. Ich traute mich nicht, die Tischdecke anzuheben und nachzuschauen. Es war qualvoll.
    Ich wollte an Tim denken und steigerte mich in eine Sehnsucht nach ihm hinein, die ich nie nach ihm hatte. Als ich zu weinen begann und Franziska mich fragte, warum, antwortete ich so laut, dass Frederic es hören musste: »Tim fehlt mir so.«
    In diesem Moment lachte Frederic auf. Wahrscheinlich hatte Estefania irgendeinen Witz gemacht. Ich bezog das Lachen jedoch auf mich und konnte nicht mehr anders. Ich musste trinken. Bier, Wein, Schnaps, Cola, Rum, Likör, alles durcheinander und alles schnell. Ich wollte nichts mehr sehen, nichts mehr fühlen, nichts mehr denken.

    Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus in diesem Raum. Unter dem Vorwand, zur Toilette zu gehen, seilte ich mich ab und verkroch mich in meinem Zimmer, um mich meinem Ta gebuch anzuvertrauen. Aber wie sollte ich das, was mich so quälte, formulieren?
    Der Eintrag dieses Abends steht zwischen Seiten, die ich wenig später mit Klebstoff verschloss. Bei dem Versuch, sie auseinanderzuziehen, riss das Papier. Lediglich dieses Textfragment blieb leserlich:

    »Ich habe geheult. So hab ich lange nicht mehr geweint. Ich war echt fertig. Ja, Frederic sagte zu Franziska, dass ich nicht die Einzige wäre, mit der er so was macht. Aber ich hatte es niemals geglaubt. Ich dachte, das war mal vorher oder so. Ich komm mir total verarscht vor. Er sagte zu mir, wir wollen Freunde sein. Ich hab ihm immer alles gesagt. Was sagt er mir? Gar nichts. Ich hab noch nie einen Menschen so gern gehabt. Ich mag ihn so, ich würde alles für

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