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Er war ein Mann Gottes

Er war ein Mann Gottes

Titel: Er war ein Mann Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Jäckel
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keine Träne wert und passé war.

    Meinen ohnmächtigen Verlustschmerz drückte ich in meinem neuen Tagebuch vor allem in Gedichten aus, die ich aus Zeitungen und bebilderten Versbüchlein auflas. Clemens Schaub gab mir viel. Ich fühlte mich, als habe er mir die Worte mitten aus der Seele geraubt, als er schrieb:

    »Ich kann nur noch weinen. Ich liege am Boden. Mein Körper krümmt sich vor Schmerz. Hilflosigkeit kriecht in mir hoch. Pläne versinken. Zukunft verschwimmt. Es bricht alles zusammen.«

    Wie seine Verzweifelte, hatte ich »den Weg verloren« und blieb »im Dreck« liegen, zu kraftlos zum Aufstehen, zu tränenleer zum Weinen.

    Max Dobel, der neue Kaplan, blieb mir trotz des Vertrauens, das sich in mir zu ihm aufgebaut hatte, vom Leib. Wir konnten zusammen lachen und Blödsinn machen, aber da waren keine seltsamen Blicke oder Fragen und keine Einladungen auf sein Zimmer und schon gar kein Alkohol. Obwohl er nett zu uns war, verhielt Max sich gegenüber uns Mädchen in der Ministrantengruppe eher reserviert und hielt es lieber mit den Jungen, mit denen er herumalberte und viel Spaß hatte.
    Am Ende des Jahres fand ich ihn sehr sympathisch und bedauerte, dass er nun zur Universität ging, um seinen Doktor zu machen, und nebenbei in einer anderen Pfarrei für die Jungenarbeit eingesetzt wurde. Aber eine besondere Rolle hatte er in meinem Leben nicht gespielt. Das Einzige, was mir nach seinem Abschied manchmal fehlte, waren unsere Motorradausflüge, auf die er mich so gern mitgenommen hat, weil ich mich ohne Angst in die Kurven legte und vor Begeisterung juchzte, wenn er mit mir »wie die gesengte Sau« über unsere kurvenreichen Schwarzwaldhöhenstraßen donnerte.
    Mit Maxens Abschied war nach diesem Jahr auch meine letzte Verbindung zu Frederic gekappt. Nun wusste außer Franziska niemand mehr, was wirklich zwischen ihm und mir gewesen war. Das brachte weiteren Abstand zu ihm. Ich atmete ein wenig auf.
    Nur in meinen Träumen erlebte ich Frederic und unser Zusammensein wieder und wieder. Zu meinem schlechten Gewissen wegen der Sündhaftigkeit unserer verbotenen Freundschaft kam die Gewissensqual hinzu, dass ich vielleicht wie Judas an ihm gehandelt hätte. Kein Tag, an dem ich mich nicht an das schicksalhafte Zusammentreffen mit dem neuen Kaplan erinnerte, mich beichten hörte und in stundenlangen gedanklichen Umformulierungen meine Aussagen variierte, als stünde das Geschehene noch zur Disposition und könnte abgewandelt oder gar ungeschehen gemacht werden.
    Jammer überschwemmte mich, weil ich Frederic, weil ich uns verraten hatte. Zorn brodelte in mir, weil ich es nicht früher getan hatte. Versagensängste bedrückten mich, weil ich nicht wusste, wieso ich Gefühle nicht klar erkennen konnte und wie ich dies in Zukunft ändern sollte.
    Selbsthass mischte sich darunter, weil ich zu blöd schien und mir »so etwas« widerfahren konnte, weil ich es nicht hatte verhindern können, weil ich es zugelassen hatte. Misstrauen gegenüber mir selbst und den Gefühlen, die andere mir entgegenzubringen schienen, zerstörte mein ohnehin noch kindlich unfertiges Selbstvertrauen und meine Bereitschaft, mich spontan auf andere einzulassen.
    Trauer, Resignation und Aufbegehren schüttelten mich, weil ich anscheinend auch dann nicht würdig schien, ehrlich und wahrhaftig geliebt zu werden, wenn ich alles dafür tat und selbst die größte, aufopfernde Liebe schenkte.
    Wie unsagbar ersehnte ich mir einen Menschen, der für mich da wäre. Doch wenn selbst meine eigene Mutter, wenn sogar Frederic dies nicht vermocht hatten, wer würde dann jemals meinen größten Wunsch erfüllen können?

    Obwohl ich mich bemühte, nicht an Frederic zu denken, konnte es unvermittelt geschehen, dass seine Augen vor mir auftauchten, diese angstgeweiteten, glasigen Augen, seine Tränen.
    Wortsilben, der Tonfall irgendeiner Stimme, ein Blätterrascheln im Wind, der Geruch von Cognac oder Mottenpulver, alles konnte mich wie aus der Wirklichkeit fortfegen. Dann hörte ich sein »Ich häng mich noch auf!« und sah ihn vor mir in einem Baum am Strick und mich wie Maria Magdalena darunter knien. Meine Schuld, alles schien meine Schuld zu sein. Damals wusste ich es ja noch nicht besser.
    So verzweifelte ich in der einen Minute, weil meine Freundschaft mit Frederic vorbei war, und verzagte in der nächsten, weil sie je begonnen hatte. Ich hasste ihn und mich und litt daran, ihn zu hassen. Ich litt so unendlich an mir. Es war alles nur

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