Er war ein Mann Gottes
lag, hätte ich ihn am liebsten wieder herausgefischt, so sehr quälte mich die Angst vor der Antwort. Gleichzeitig sehnte ich mich unendlich danach, dass Frederic einmal, dieses eine und letzte Mal, sein Wort wahr machen und ganz für mich da sein und mich annehmen sollte, wie ich war, und mich durch sein Bekenntnis der Schuld von dem mir unerträglichen Stigma »Du bist irgendwie verkehrt« erlösen würde.
Nicht ich hatte mich verkehrt verhalten. Er hatte sich verkehrt verhalten. Nicht ich hatte ihn verführt, sondern er mich. Einmal im Leben wollte ich das von ihm gesagt, geschrieben bekommen. Einmal wollte ich es wissen und etwas von ihm in der Hand haben, das ich wieder und wieder lesen könnte, wenn die Dämonen der Kindheit und des Missbrauchs nach mir griffen.
Frederics Antwort klang lapidar. »Es hat nie einen sexuellen Kindesmissbrauch gegeben. Ich habe meine Sicht der Dinge. Frau O. hat die ihre.«
Dass er sich sexuell an mir erregte und abreagierte, dass er mich benutzte und beschmutzte, dass er mich sexuell missbrauchte, all das geschah nach seinem Verständnis wohl so unfreiwillig und unschuldig wie unwillkürliche nächtliche Samenergüsse.
Frederics Satz traf mich, als hätte eine Sturmböe mein Ich entwurzelt, als läge jedes Würzelchen, das mich im Leben hielt und gefestigt hatte, haltlos im Nirgendwo. Mit einem einzigen Satz hatte er meine Erinnerung, meine Wahrnehmung, mein Wissen, meine Glaubwürdigkeit, meine Gefühle, einfach alles für »irgendwie verkehrt« erklärt.
Wenn Wahrheit war, was er sagte, und gleichermaßen Wahrheit war, was ich sagte, gab es keine wahre, keine »irgendwie richtige« Wahrheit. Dann gab es nichts, was ich ihm vorwerfen durfte. Dann war alles, was ich für wahr ansah, in seiner Wahrheit Lüge. Wie seine wahre Freundschaft war seine Wahrheit mit anderen wahren Inhalten gefüllt als die meinen.
Während mein Therapeut mit Frederics Wahrheit den Schlussstrich unter meine Wahrheitsfindung gezogen sah, geriet meine Seele erst richtig ins Trudeln. Verzweifelt krallte ich mich an diesem Therapeuten fest und warf ein kleines Vermögen dafür aus dem Fenster, dass er mir lange predigtartige Sermone hielt, wenn ich zu ihm kam.
Ich hatte von anderen Therapie-Erfahrenen gehört, dass ihr Therapeut sich selbst zurückhielt und seine Unterstützung darin bewies, dass er quasi Hilfe zur Selbsthilfe leistete. Manchmal sei man ohne ein Wort gesprochen zu haben aus der Praxis gegangen. Von einer solchen Therapie konnte ich nicht berichten.
Mein Therapeut hörte sich meine kargen Mitteilungen an, die sich niemals konkret mit dem sexuellen Missbrauch befassten, unter dessen Folgen ich litt. Er fragte nichts. Er animierte mich nicht zum Nachdenken und Erzählen. Stattdessen ließ er Worte und Sätze aus seinem Innern über mich strömen, die ich selten verstand, jedoch als beruhigend und angenehm einschläfernd empfand.
Sooft ich die Praxis verließ, wusste ich zwar nicht, ob oder was genau ich jetzt an Hilfestellung für mein Geld erhalten hatte, fühlte mich aber wahrgenommen.
Als Notfalltherapie oder zum besseren Einschlafen, denn ich hatte Albträume und wanderte in der Nacht durch meine Wohnung, erhielt ich eines Tages eine besprochene Tonkassette, auf der mein Therapeut ganz ähnlich sprach, wie ich das von unseren Sitzungen gewohnt war.
Während der Recherchezeit zu diesem Buch hörte ich mir diesen Tonträger nochmals an und fühlte mich augenblicklich wie in eine der vergangenen Original-Therapiestunden zurückversetzt.
Es ist schwer, die in einem näselnden Leierton gesprochenen Worte zu verstehen und einen Sinn darin zu erkennen. Manches erscheint zunächst schlicht als absurder Unfug. Viele Sätze bleiben unvollendet hängen. Immer wieder hört man den Therapeuten genüsslich schmatzend an seiner Zigarette saugen und kraftvoll den Rauch ausstoßen. Dazwischen trinkt er schlürfend aus einem Glas, das er anschließend klappernd auf dem Tisch absetzt. Dann stößt er ein kleines, tief aus dem Magen auftauchendes »Ah!« aus und zündet sich eine neue Zigarette an. Hinzu kommen all die Geräusche, die entstehen, wenn man die verschnupfte Nase hochzieht oder einen Frosch *m Hals hat, den man gern herausräuspern möchte.
Das Erstaunliche ist, dass ich heute bei angestrengtem Zuhören den mir ursprünglich völlig unverständlichen Text sogar verstehe.
Nie zuvor habe ich begriffen, dass er mir während der gesamten Therapiezeit ganz eindeutig auf seine
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