Er war ein Mann Gottes
schrecklich.
Selbstverständlich wurde auch dieser Sturm der Gefühle hinter der Kulisse der coolen, souveränen Cora verborgen. Wahrscheinlich hätte man mich trotzdem entlarven können, hätte sich jemand die Mühe gemacht, mit herzlichem Interesse und verständnisvollen Fragen auf mich zuzugehen. Ich empfand mich oft wie einen Kugelfisch, der sich vor Angst bis schier zum Platzen aufgeblasen hatte und nur ein wenig Ruhe, Sicherheit brauchte, um seine wahre, kleine Gestalt anzunehmen. Doch niemand war da, der mir die Zuversicht geschenkt hätte, dass ich in meinem tatsächlichen Wesen angenommen und aufgefangen würde, wenn ich mich in seine Arme fallen lassen würde.
Einzig Franziska wusste, wie mir zumute war. Aber so ganz erfasste wohl nicht einmal sie, wie sterbensmüde ich inmitten des Wirbels war, den meine Ruhelosigkeit erzeugte.
Manchmal drangen zwar ein paar Informationen über unseren tollen Vikar zu uns in den Ort vor. Noch immer bewunderte ihn jeder. Doch ich wollte nichts davon wissen. Ich bekam Herzrasen, sobald ich nur seinen Namen hörte oder jemand sagte, er würde demnächst einmal zu Pfarrer Punktum und in die Gemeinde zu Besuch kommen. Ich war mir sicher, auf der Stelle tot umfallen zu müssen, sollte ich ihm nochmals begegnen. Noch heute habe ich dieses Gefühl und erschrecke bis ins Mark, wenn ich in der Menschenmenge jemanden sehe, dessen Hinterkopf, Schulterhaltung, Kopfdrehung oder Gestik mich auch nur ansatzweise an Frederic erinnert. Ich könnte es auch heute noch nicht aushalten, ihn zu sehen.
Therapieversuch
Obwohl ich meinen Eltern nie sagen werde, was ich als Kind im vermeintlich heiligen Schoß der Kirche erlebt habe, kann ich vor mir selbst bereits seit einigen Jahren dazu stehen, dass ich ein Kindesmissbrauchsopfer bin und der Täter ausgerechnet ein Mann Gottes war, dem ich bedingungslos vertraut und gehorcht, den ich aus unschuldigem Herzen heraus liebgehabt und über alle Maßen verehrt habe.
Die Erfahrung dieses Missbrauchs ist wie ein Kaleidoskop. Wie immer ich sie betrachte, drehe, schüttele, sie bleibt ein Splitterwerk aus sich wandelnden Gefühlen, Erinnerungen, Ereignissen. Im Tunnelblick gefangen und auf meine eigene Schuld fixiert, formierten sich diese Erinnerungssplitter, während ich sie ständig mehr zergrübelte zu immer wieder neuen, unbeständigen Bildern.
Erst Informationen, die ich in meinem Beruf als Sozialpädagogin über das Problemfeld sexueller Gewalt erhielt trugen dazu bei, die Tat an sich im Kopf zu erfassen und dem was ich durchgemacht hatte, einen Namen geben zu können. Bücher über sexuellen Kindesmissbrauch halfen mir weiter, mich selbst im Vergleich mit anderen Betroffenen einordnen zu können. Eines von ihnen, »Monika B. Ich bin nicht mehr eure Tochter«, brachte mich erstmals mit Karin Jäckel in Kontakt. Es tat mir wohl, in meinem Elend endlich nicht mehr so einsam, so singulär zu sein.
Im ersten Semester meines Studiums der Sozialpädagogik nahm ich eine Therapie in Anspruch, um den Albtraum meiner Kindheit aufzuarbeiten.
Da ich unter keinen Umständen wollte, dass meine Eltern etwas von meinen Schwierigkeiten erfahren würden, ließ ich mir diese Therapie nicht durch einen Arzt verschreiben, sondern zahlte sie aus eigener Tasche. Vielleicht war mein Therapeut deshalb nicht erste Wahl. Jedenfalls begriff er nicht allzu viel von dem, was mit mir los war.
Ich hatte erwartet, mit Hilfe meines Therapeuten die Frage klären zu können, ob Frederic das Recht hatte, sich vor Gott als der arme, unschuldig von mir, einem Kind, verführte Adam zu geben. Ob er wirklich von mir verführt worden war, wie er behauptet hatte. Ob ich die Schuldige war.
Wir dringend wünschte ich mir in den ersten Jahren dieser Therapie ein Bekenntnis von Frederic, dass er mich sexuell missbraucht hatte. Und wie glücklich war ich, als mein Therapeut eines Tages vorschlug, ich solle ihm einen Brief schreiben und ihn fragen, was ich wissen wollte.
Selbst konnte ich diesen Brief nicht verfassen. Es war mir ebenso unmöglich, Frederic jetzt Fragen zu stellen, wie ihm damals auf seine Fragen zu antworten. Die Panik nahm mir den Atem, sobald ich zum Stift griff, um das, was zwischen uns geschehen war, konkret zu benennen.
Mein Therapeut erschien mir wie ein Engel, als er sich anbot, mir diesen Brief vorzuformulieren. Auf der Maschine getippt und von mir unterschrieben, würde es aussehen, als hätte ich ihn allein geschrieben.
Als der Brief endlich im Kasten
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