Eragon 04 - Das Erbe Der Macht
manipulieren, was sie sah, fühlte, hörte und roch, konnte die Welt um sie herum auf eine Weise verzerren, dass sie es niemals bemerken würde.
Was immer mit ihr geschah – was immer mit ihr zu geschehen schien –, sie würde sich nicht täuschen lassen. Selbst wenn Eragon die Tür eintrat und ihre Fesseln durchschnitt, würde sie immer noch glauben, das sei eine List ihrer Entführer. Sie wagte es nicht, dem zu trauen, was ihre Sinne wahrnahmen.
In dem Augenblick, als Murtagh sie aus dem Lager verschleppt hatte, war die Welt zu einer Lüge geworden, und es ließ sich nicht sagen, wann diese Lüge enden würde, falls sie überhaupt jemals endete. Sie konnte sich nur einer Sache sicher sein: dass sie existierte. Alles andere war fragwürdig, selbst ihre eigenen Gedanken.
Nachdem ihr anfänglicher Schock sich gelegt hatte, begann die Langeweile des Wartens an ihr zu nagen. Ihr Hunger und ihr Durst waren alles, was sie hatte, um die verstrichene Zeit abzuschätzen, und ihr Hunger schwoll in scheinbar unregelmäßigen Abständen an und flaute wieder ab. Sie versuchte, die vergehende Zeit abzuschätzen, indem sie zählte, aber die Übung langweilte sie und sie verzählte sich jedes Mal, sobald sie die Zehntausend erreicht hatte.
Trotz der Schrecken, von denen sie sicher war, dass sie auf sie warteten, wünschte sie, ihre Entführer würden sich beeilen und sich zeigen. Sie schrie minutenlang, doch sie hörte nur ein klagendes Echo als Antwort.
Das matte Licht hinter ihr flackerte niemals, wurde nie heller oder dunkler. Sie nahm an, dass es eine flammenlose Laterne war, wie auch die Zwerge sie fertigten. Ihr Schein hielt sie lange wach, aber schließlich übermannte sie die Erschöpfung und sie nickte ein.
Dass sie träumen könnte, versetzte sie in Schrecken. Im Schlaf war sie am verletzlichsten und sie befürchtete, dass ihr Geist sich im Schlaf mit genau den Dingen beschäftigen würde, die sie unbedingt geheim zu halten versuchte. Sie hatte jedoch kaum eine Wahl. Früher oder später musste sie schlafen, und wenn sie sich zwang, wach zu bleiben, würde sie sich am Ende nur noch elender fühlen.
Also schlief sie. Aber ihr Schlaf war unruhig und unerquicklich, und als sie erwachte, war sie immer noch müde.
Ein Knall erschreckte sie.
Irgendwo hinter und über ihr hörte sie, wie ein Riegel angehoben wurde, dann das Knarren einer aufschwingenden Tür.
Ihr Puls beschleunigte sich. Soweit sie es sagen konnte, war mehr als ein Tag vergangen, seit sie das erste Mal das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Sie verspürte quälenden Durst, ihre Zunge fühlte sich geschwollen und klebrig an und ihr ganzer Körper schmerzte von dem langen Liegen in derselben Position.
Schritte kamen eine Treppe herunter. Stiefel mit weichen Sohlen auf Stein … Stille. Dann klirrte Metall. Schlüssel? Messer? Schlimmeres? … Die Schritte setzten wieder ein. Jetzt näherten sie sich ihr. Kamen näher … näher …
Ein stämmiger Mann in einem grauen Wollwams trat in ihr Gesichtsfeld. Er trug eine silberne Platte mit verschiedenen Speisen: Käse, Brot, Fleisch und dazu Wein und Wasser. Er bückte sich, stellte die Platte an der Wand ab, drehte sich dann um und kam auf sie zu. Seine Schritte waren kurz, schnell und präzise. Beinahe anmutig.
Leicht keuchend lehnte er sich an die Kante der Steinplatte und starrte auf Nasuada herab. Sein Kopf hatte die Form eines Flaschenkürbisses: oben knollenförmig, unten knollenförmig und in der Mitte schmal. Er war glatt rasiert und kahl bis auf einen kurz geschorenen dunklen Haarkranz rund um den Schädel. Der obere Teil seiner Stirn glänzte, seine fleischigen Wangen waren rötlich und die Lippen waren genauso grau wie sein Wams. Seine Augen waren unscheinbar: braun und eng stehend.
Er gab einen schmatzenden Laut von sich und sie bemerkte, dass seine Zähne ziemlich weit vorstanden und vorne schräg aufeinandertrafen, sodass sie eine schwach ausgeprägte, aber deutlich erkennbare Schnauze bildeten.
Sein warmer, feuchter Atem roch nach Leber und Zwiebeln. In ihrem ausgehungerten Zustand wurde ihr übel von dem Gestank.
Sie wurde sich ihres dürftig bekleideten Zustands deutlich bewusst, während der Mann sie von oben bis unten musterte. Sie fühlte sich verletzlich, als sei sie ein zu seiner Unterhaltung ausgebreitetes Spielzeug oder ein Schoßtier. Wut und Beschämung trieben ihr eine heiße Röte in die Wangen.
Entschlossen, nicht darauf zu warten, bis er seine Absichten kundtat, versuchte
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