Erbarmen
würde die Taschenlampe nicht fest sitzen, und da die Taschenlampe selbst das Grabwerkzeug war, musste sie vorsichtig damit umgehen. Sie musste den Rand gewissermaßen in die Unterlage hineindrehen, sodass der Durchmesser des Lochs dem der Lampe entsprach, und danach in hauchdünnen Schichten den Beton abtragen.
Am fünften Tag hatte sie noch keine zwei Zentimeter geschafft, und ihr Magen brannte.
Die Hexe dort draußen hatte immer genau zum gleichen Zeitpunkt ihre Forderung wiederholt. Wenn Merete nicht die Scheiben putzte, würde sie kein Licht anmachen und kein anständiges Essen zu ihr hereinschicken. Der Mann hatte vermitteln wollen, aber es hatte nichts genützt. Und jetzt standen sie wieder da und erneuerten ihre Forderung. Die Dunkelheit, darauf konnte sie pfeifen, aber Meretes ganzer Körper schrie nach Essen. Aß sie nicht, würde sie krank werden, und das wollte sie auf keinen Fall.
Sie sah nach oben zu dem rötlichen Film, der schwach auf den Scheiben leuchtete.
»Ich habe nichts, um die Scheiben sauber zu wischen, wenn das für euch so wichtig ist«, rief sie schließlich.
»Dann benutz doch deine Ärmel und deine Pisse, und dann schicken wir Essen herein und machen das Licht an«, rief die Alte zurück.
»Dann müsst ihr mir auch eine neue Jacke geben.«
Hier stimmte die Frau dieses widerliche Gelächter an, das einem durch Mark und Bein ging. Sie antwortete nicht, lachte nur, bis ihre Lungen leer waren, und dann war es wieder still. »Ich mache es nicht«, sagte Merete, aber sie tat es doch.
Es kostete nicht viel Zeit, fühlte sich aber wie die schlimmste Niederlage ihres Lebens an.
Auch wenn sie nun dann und wann dort draußen standen, konnten sie nicht sehen, was sie machte. Dort, dicht an der Tür, war sie in einem toten Winkel, genau wie wenn sie auf dem Fußboden zwischen den Bullaugen saß. Würden sie unangemeldet in der Nacht kommen, würden sie ihr Kratzen und Schaben hören, aber das taten sie nicht. Sie wusste, dass die Nacht ihr gehörte.
Als sie ein fast vier Zentimeter tiefes Loch in den Beton geschabt hatte, änderte sich ihr bis dahin so vorhersehbares Dasein radikal. Sie hatte unter der blinkenden Leuchtstoffröhre gesessen und auf das Essen gewartet und ausgerechnet, dass Uffe bald Geburtstag haben musste. Es war auf jeden Fall schon Mai. Zum fünften Mal Mai, seit sie eingesperrt war. Mai 2006. Sie hatte neben dem Toiletteneimer gesessen, ihre Zähne gereinigt, an Uffe gedacht und deutlich vor sich gesehen, wie die Sonne von einem strahlend blauen Himmel schien. »Happy birthday to you«, sang sie mit heiserer Stimme und sah Uffes fröhliches Gesicht vor sich. Irgendwo dort draußen war er. Es ging ihm gut, da war sie sicher. Natürlich ging es ihm gut. Das hatte sie sich oft gesagt.
»Ja, Lasse, das ist der Knopf«, hörte sie plötzlich die Stimme der Frau. »Der kommt einfach nicht wieder raus, sodass sie alles hören kann, was wir sagen.«
Das Bild vom blauen Himmel war schlagartig verschwunden, und ihr Herz klopfte wild. Zum ersten Mal hörte sie, wie die Frau diesen Mann ansprach, den sie Lasse nannten.
»Wie lange schon?«, antwortete gedämpft eine Stimme, bei deren Klang sie die Luft anhielt.
»Seit du das letzte Mal abgereist bist. Vier bis fünf Monate.«
»Habt ihr über euch gesprochen?«
»Natürlich nicht.«
Einen Moment lang war es still. »Bald ist es wohl sowieso egal. Lass sie nur hören, was wir sagen. Jedenfalls bis ich mich anders entscheide.«
Der Satz traf sie wie ein Axthieb. »Bald ist es wohl sowieso egal.« Was war egal? Was meinte er damit? Was sollte passieren?
»In der Zeit, als du weg warst, hat die alte Schachtel versucht, sich zu Tode zu hungern. Und einmal hat sie die Schleuse blockiert. Als Letztes hat sie ihr Blut an die Scheiben geschmiert, sodass wir nicht durchschauen konnten.«
»Brüderchen sagt, sie hätte einmal Zahnschmerzen gehabt. Das hätte ich gern gesehen«, sagte Lasse.
Daraufhin war das trockene Lachen der Frau zu vernehmen.
Die wussten doch, dass sie alles mithören konnte. Wieso war alles so gekommen? Was hatte sie ihnen bloß getan?
»Was habe ich euch getan, ihr Ungeheuer?«, rief sie, so laut sie konnte, und stand dabei auf. »Macht hier drinnen das Licht aus, damit ich euch sehen kann! Macht das Licht aus, damit ich euch in die Augen sehen kann, während ihr sprecht!«
Wieder war nur das Lachen der Frau zu hören. »Träum weiter, dumme Kuh«, rief sie zurück.
»Du willst, dass wir es
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