Erbarmen
Essenseimer in der Schleuse zurückfahren wollten, sprang sie blitzschnell auf und klemmte die Zange in das Karussell. Sie würden sie nicht um diese letzte Portion betrügen. Mit einem Pfeifen schnurrte der Mechanismus zurück, und die Tür der Schleuse war wieder geschlossen.
»Diese Nummer hat heute einmal geklappt, aber freu dich nicht zu früh«, rief die Frau draußen. Die Wut in ihrer Stimme war Merete ein Trost. »Von morgen an gebe ich dir verdorbenes Essen, bis du die Scheiben wieder abwischst, hast du verstanden!«, fuhr sie fort. Dann erloschen die Leuchtstoffröhren über ihr.
Merete saß eine Weile auf dem Boden und starrte die braunen Flecken auf den Spiegelglasflächen an, die schwach im Licht von draußen leuchteten, und auf das kleine Feld, das sie freigelassen hatte. Sie merkte, dass die Frau sich auf die Zehenspitzen stellte, um hineinzuschauen. Aber Merete hatte es mit Absicht so hoch oben platziert. Wie lange mochte es her sein, seit sie zuletzt ein solches Gefühl von Freude und Überlegenheit durchströmt hatte? Es würde nur kurz anhalten, das war ihr klar. Aber im Laufe der Jahre, in denen man sie hier festgehalten hatte, waren solche Augenblicke ihr als einziger Antrieb geblieben, weiterzuleben.
Das und der Gedanke, Rache zu nehmen, der Traum von einem Leben in Freiheit und die Vorstellung, eines Tages Uffe von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen.
In dieser Nacht schaltete sie die Taschenlampe zum letzten Mal ein. Sie ging zu dem kleinen unverschmierten Stück in der verspiegelten Scheibe und leuchtete sich selbst in den Mund. Das Loch im Zahnfleisch war riesig, aber so weit sie es unter diesen Bedingungen beurteilen konnte, sah es gut aus. Die Zungenspitze sagte dasselbe. Der Heilungsprozess hatte bereits begonnen.
Als nach wenigen Minuten das Licht der Taschenlampe schwächer wurde, kniete sie sich neben die Schleuse und untersuchte den Schließmechanismus ringsum. Sie hatte das alles schon tausendmal gesehen, aber vielleicht musste sie ihn sich jetzt wirklich genau einprägen. Wer konnte wissen, ob sie das Licht jemals wieder einschalten würden?
Das Schleusentor war gebogen und vermutlich deswegen konisch, damit es den Raum luftdicht abschließen konnte. Der unterste Teil, die Klappe zur Schleuse, war knapp fünfundsiebzig Zentimeter hoch, und auch hier waren die Ritze fast unmöglich zu ertasten. Unten war ein Metallzapfen angeschweißt, der das Schleusentor in geöffneter Position anhielt. Sie untersuchte ihn gründlich, bis das Licht der Taschenlampe schließlich erlosch.
Anschließend saß sie im Dunkeln und überlegte, was zu tun war.
Drei Dinge gab es, über die sie selbst bestimmen wollte. Erstens, was die Umgebung von ihr zu sehen bekam; dieses Problem hatte sie bereits gelöst. Vor ewig langer Zeit, als sie gerade erst eingesperrt worden war, hatte sie alle Flächen und Wände bis ins Kleinste abgesucht, um herauszufinden, ob irgendwo eine geheime Kamera versteckt war. Aber da war nichts. Die Unholde, die sie gefangen hielten, hatten sich auf die verspiegelten Scheiben verlassen. Das hätten sie nicht tun sollen. Deshalb konnte sie sich nun ungesehen im Raum bewegen.
Zweitens wollte sie dafür sorgen, dass sie gemüts- und verstandesmäßig nicht zugrunde ging. Es hatte Tage und Nächte gegeben, da hatte sie sich selbst kaum noch spüren können, und es gab Wochen, in denen sich ihre Gedanken im Kreis bewegten. Aber nie hatte sie sich selbst aufgegeben. Wenn sie es nicht mehr aushielt, zwang sie sich, an andere zu denken, die es vor ihr geschafft hatten. An die, die ohne Gerichtsurteil Jahrzehnte in Isolationshaft verbracht hatten. Dafür gab es in der Weltgeschichte und der Literatur genügend Beispiele. Papillan, der Graf von Monte Christo und viele andere. Wenn die das konnten, konnte sie es auch. Sie hatte mit aller Macht ihre Gedanken dazu gezwungen, sich in Bücher und Filme zu vertiefen und in die allerschönsten Erinnerungen ihres Lebens; dadurch war es ihr gelungen, den gedanklichen Teufelskreis zu durchbrechen.
Denn sie wollte sie selbst sein, Merete Lynggaard, bis zu dem Tag, an dem sie gehen musste. Dieses Versprechen sich selbst gegenüber gedachte sie zu halten.
Und wenn der Tag dann schließlich kam, wollte sie selbst bestimmen, wie sie sterben würde. Das war das dritte. Die Frau dort draußen hatte einmal gesagt, es sei dieser Lasse, der bei ihnen die Entscheidungen traf. Aber wenn es so weit war, würde die Hexe die Sache selbst in die
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