Erbarmen
Moment glaubte er, es sei Lis aus dem zweiten Stock. Aber dann erkannte er Mona Ibsens wachsweiche Samtstimme, und er hielt die Luft an.
»Was war denn das?«, fragte sie. »Es kam ja nicht mal ein Freizeichen.«
Ja, das hätte er wahrhaftig auch gern gewusst. Sie musste gen au in dem Augenblick zu ihm durchgestellt worden sein, als er nach dem Hörer griff.
»Ich habe >Gossip< von heute gesehen«, sagte sie.
Er fluchte leise. Sie nun auch noch. Wenn dieses Scheißblatt wüsste, wie viele Leser er ihm diese Woche beschert hatte, würden sie sein Konterfei täglich auf der ersten Seiten platzieren. »Das ist ja eine ziemlich spezielle Situation, Carl. Wie haben Sie darauf reagiert?«
»Es hat schon schönere Tage gegeben, wenn Sie das meinen.«
»Wir sollten uns bald wieder treffen«, sagte sie.
Irgendwie wirkte ihr Angebot diesmal nicht so verlockend.
Wahrscheinlich wegen dieses Eherings, der sich in der Zwischenzeit störend auf Carls Antennen ausgewirkt hatte.
»Ich habe die Vermutung, dass Sie und Hardy psychisch erst dann wieder vollkommen regeneriert sein werden, wenn die Mörder gefasst sind. Stimmen Sie mir zu, Carl?«
Er spürte, wie er innerlich mehr und mehr auf Abstand ging. »Nein«, sagte er. »Das hat mit diesen Idioten nichts zu tun. Solche wie wir müssen damit leben, dass wir ständig in Gefahr sind.« Beharrlich versuchte er, sich daran zu erinnern, was der Chef der Mordkommission früher am Tag gesagt hatte, aber das Atmen dieses erotischen Individuums am anderen Ende der Leitung half seinem Gedächtnis nun so gar nicht auf die Sprünge. »Sie müssen doch davon ausgehen, dass jeder von uns in seiner beruflichen Vergangenheit schon mehr als nur einmal Schwein gehabt hat. Irgendwann muss es dann ja mal schiefgehen.«
»Gut, dass Sie das sagen«, erwiderte sie. Also hatte Hardy ihr etwas Ähnliches gesagt. »Aber, Carl, wissen Sie was? Das ist doch völliger Unsinn! Ich schlage vor, dass wir uns regelmäßig treffen, damit wir solche Gedankengänge unter Kontrolle bekommen. Nächste Woche steht nichts mehr in den Zeitungen, dann haben wir Ruhe.«
Bei Scandlines war man sehr entgegenkommend. Man hatte dort, wie in vergleichbaren Fällen, in denen Menschen verschwunden waren, eine Akte über Merete Lynggaard angelegt. So erfuhr Carl, dass die Mannschaftsliste von dem betreffenden Tag längst ausgedruckt vorlag und dass man eine Kopie davon den Mitarbeitern der Mobilen Einsatztruppe übergeben hatte. Die gesamte Mannschaft an Deck und unter Deck war befragt worden, aber leider war das Ergebnis zu dürftig ausgefallen, als dass man sich ein einigermaßen klares Bild von den Geschehnissen während der Überfahrt hätte machen können.
Carl hätte sich am liebsten selbst an die Stirn geschlagen.
Was zum Teufel war in der Zwischenzeit mit der Liste passiert? Hatte man sie als Kaffeefilter benutzt? Der Teufel sollte Leute wie Bak & Co. holen.
»Ich habe eine Personennummer«, sagte er, »können Sie danach suchen?«
»Das ist heute leider nicht möglich. Die Mitarbeiter der Buchhaltung befinden sich auf einer Fortbildung.«
»Okay. Ist die Liste wenigstens alphabetisch geordnet?«, fragte er, aber das war sie nicht. Der Kapitän und seine engsten Mitarbeiter mussten unbedingt an erster Stelle stehen, so war das nun mal. An Bord eines Schiffs kannte jeder seinen Platz in der Hierarchie.
»Würden Sie die Liste bitte auf den Namen Lars Henrik Jensen durchsehen?«
Der Betreffende lachte etwas müde. Diese Liste war offenbar ein ganz schöner Brocken.
Nach genauso langer Zeit, wie Assad brauchte, um sich von einem weiteren Gebet zu erheben, sein Gesicht in einer kleinen Schale in der Ecke zu waschen, dröhnend seine Nase zu putzen und danach noch einmal Wasser für seinen bonbon süßen Tee aufzusetzen, beendete der Mitarbeiter des Scandlines-Hauptsitzes seine Suche. »Nein, einen Lars Henrik Jensen gibt es da nicht«, sagte er.
Das war verflucht entmutigend.
»Warum hängst du so mit dem Kopf, Carl?« Assad lächelte. »Du sollst nicht mehr an das doofe Foto in der doofen Zeitung denken. Du sollst nur daran denken, dass es viel schlimmer wäre, wenn du alle deine Arme und Beine gebrochen hättest.«
Ohne Zweifel ein eigenwilliger Trost.
»Assad, ich habe den Namen von diesem Atomos bekommen«, sagte er. »Ich hatte das Gefühl, dass er auf dem Schiff gearbeitet hat, von dem Merete Lynggaard verschwand, aber das ist nicht der Fall. Deshalb sehe ich so aus.«
Assad klopfte ihm
Weitere Kostenlose Bücher