Erbarmen
Auf den ersten Blick war nichts zu sehen, was versteckt werden musste. Warum also abschließen?
»Hier muss etwas sein, Carl. Sonst wäre nicht abgeschlossen.« Carl nickte und tauchte in den Kleiderschrank. Da war wieder der Parfümgeruch. Er klebte förmlich an den Sachen. Carl klopfte an die Rückwand, aber nichts deutete auf etwas Ungewöhnliches hin. Assad hatte inzwischen unter den Teppich geschaut. Darunter versteckte sich keine Falltür.
Sie musterten die Decke und die Wände und fixierten beide gleichzeitig den großen Spiegel. Der reichte bis auf den Boden und hing ganz für sich. Ringsum nichts als weiße Wand.
Carl klopfte mit den Fingerknöcheln an die Wand. Sie schien massiv zu sein.
Vielleicht kann man den Spiegel abhängen, dachte er und griff danach. Aber der Spiegel saß fest. Assad legte die Wange an die Wand, um dahinterzusehen.
»Ich glaube, der Spiegel hängt an einem Scharnier auf der Rückseite. Und da ist so eine Art Schloss.«
Er schob einen Finger hinter den Spiegel. Mit Mühe gelang es ihm, den Riegel zu lösen. Dann griff er nach der Kante und zog. Der ganze Raum wanderte im Spiegel vorbei, als er zur Seite glitt und ein mannshohes, tiefschwarzes Loch in der Wand freigab.
Wenn wir das nächste Mal an der Front sind, bin ich besser vorbereitet, dachte Carl und sah vor seinem inneren Auge die Bleistifttaschenlampe in der Schreibtischschublade. Er steckte die Hand in das Loch, tastete nach einem Schalter und dachte sehnsüchtig an seine Pistole. Kurz spürte er den Druck auf der Brust.
Er holte tief Luft und lauschte. Nein, dort drin konnte niemand sein. Wie sollte sich da jemand eingeschlossen haben, wo das Vorhängeschloss außen an der Tür hing? Oder wäre es denkbar, dass Lasse Jensens Bruder oder seine Mutter die Aufgabe hatten, ihn in seinem Versteck einzuschließen, falls die Polizei kam und herumschnüffelte?
Er fand den Schalter und drückte darauf, bereit, zur Seite zu springen, falls dort jemand auf sie wartete. Es dauerte eine Sekunde, bis Neonröhren blinkend angingen, dann lag der Raum hell erleuchtet vor ihnen.
Damit war es klar.
Sie waren an der richtigen Adresse, daran gab es keinen Zweifel.
Er merkte, wie Assad hinter ihm lautlos in den Raum glitt, während er selbst sich den Pinnwänden und den abgenutzten Stahltischen an den Wänden näherte. Er starrte auf Fotos von Merete Lynggaard in allen Varianten. Von ihrem ersten Auftreten vor dem Parlament bis zur häuslichen Idylle auf der Wiese in Stevns. Unbekümmerte Momente, eingefangen von einem, der ihr Böses wollte.
Er senkte den Blick und betrachtete die Papierstöße auf einem der Stahltische. Ihm wurde plötzlich klar, wie systematisch dieser Lasse, der mit richtigem N amen Lars Henrik Jensen hieß, sich zu seinem Ziel vorgearbeitet hatte.
Der erste Stapel enthielt alle Papiere aus Godhavn. Er blätterte sich kurz durch und entdeckte die Originale der Akte betreffend Lars Henrik Jensen. Die vor Jahren verschwunden waren. Auf mehreren Bögen hatte Lasse unbeholfen geübt, die Personennummer zu verändern. Später wurde er geschickter, und auf dem letzten Blatt hatte er den Bogen raus. Doch, ja, Lasse hatte die in Godhavn verbliebenen Papiere manipuliert, und damit hatte er Zeit gewonnen.
Assad deutete auf den nächsten Stapel. Hier lag die Korrespondenz zwischen Lasse und Daniel Hale. Anscheinend war die Bezahlung der Restsumme an Interlab für die Gebäude, die Lasses Vater vor vielen Jahren übernommen hatte, noch immer nicht erfolgt. Anfang 2002 hatte Daniel Hale ein Fax geschickt, in dem er mitteilte, er beabsichtige, Klage zu erheben. Die Forderung belief sich auf zwei Millionen Kronen. Daniel Hale brachte sich damit selbst an den Abgrund, aber woher sollte er die geistige Verfassung seines Gegner kennen? Vielleicht war es diese Forderung zu genau dem Zeitpunkt gewesen, die die Kettenreaktion in Gang gesetzt hatte?
Carl nahm die zuoberst liegenden Papiere. Es war ein Fax, das Lasse Jensen an dem Tag verschickt hatte, als Daniel Hale umgebracht wurde. Der Mitteilung lag ein nicht unterschriebener Vertrag bei.
»Ich habe das Geld beschafft. Wir können heute bei mir den Handel abschließen und den Vertrag unterschreiben. Mein Anwalt wird alle nötigen Papiere und Unterlagen mitbringen, den Vertragsentwurf faxe ich anbei mit«, stand in der Mitteilung. Ja, er hatte an alles gedacht. Wären die Papiere nicht im Auto verbrannt, hätte Lasse sicher dafür gesorgt, dass sie verschwanden, ehe Polizei
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