Erbarmen
wandte sich zu Assad um und sah, dass dieser ein zehn Zentimeter langes glänzendes Springmesser in der Hand hielt. Wenn man es richtig gebrauchte, hatte der Gegner ernstliche Probleme. Verkehrt gebraucht, bekamen alle Probleme.
»Was zum Teufel tust du da, Assad? Wo kommt das her?« Assad zuckte die Achseln. »Zauberei, Carl. Ich zaubere es hinterher auch wieder weg, das verspreche ich.«
»Zum Teufel noch mal.«
Was Assad betraf, schien sich Carls Bedürfnis, laut »Das kann doch nicht wahr sein!« zu brüllen, zu einem Dauerzustand zu entwickeln. Eine durch und durch illegale Waffe - wie zum Teufel kam der Kerl auf eine dermaßen idiotische Idee?
»Assad, wir sind dienstlich unterwegs, ist dir das klar? Das ist total hirnrissig, los, gib mir das Messer.«
Die Könnerschaft, mit der Assad das Messer ruck, zuck zusammenklappte, war besorgniserregend.
Carl wog es in der Hand, ehe er es unter Assads vorwurfsvollem Blick in die Jackentasche steckte. Sogar sein gutes altes Pfadfindermesser wog weniger.
Die große Halle war über einem gegossenen Fußboden errichtet, den Frost und eindringendes Wasser rissig gemacht hatten. Den morschen Rahmen in den Fensterhöhlen ohne Scheiben und den Pressholzbalken, die die Decke trugen, hatten Wind und Wetter zugesetzt. Der gewaltige Raum war vollkommen leer, bis auf ein bisschen Gerümpel und etwa fünfzehn bis zwanzig Eimer. Sie sahen genauso aus wie die, die er überall auf dem Grundstück gesehen hatte.
Er trat nach einem Eimer, sodass der umkippte, wegrollte und einen ekelhaften Gestank nach Fäulnis verströmte. Als er liegen blieb, hatte er kreisförmig Schlammspuren zurückgelassen. Carl schaute sich den Schlamm an. Waren das Reste von Toilettenpapier? Er schüttelte den Kopf. Die Eimer hatten bei jedem Wetter hier gestanden. Alles würde so stinken und so aussehen, wenn es nur lange genug unter diesen Bedingungen herumstand.
Am Boden des Eimers erkannte er das Logo der Reederei Merconi, das ins Plastik eingeprägt war. Höchstwahrscheinlich hatte Lars darin übrig gebliebenes Essen vom Schiff mit nach Hause gebracht.
Er griff sich eine solide Eisenstange aus dem Gerümpel, ging hinaus und nahm Assad mit zu dem hintersten der drei versetzt stehenden Gebäude.
»Bleib hier stehen«, sagte er und studierte das Vorhängeschloss, von dem es hieß, nur Lasse habe den Schlüssel.
»Hol mich, sobald du irgendwas Merkwürdiges beobachtest«, fuhr er fort und schob die Brechstange unter den Riegel des Schlosses. In seinem alten Dienstwagen hatten sie eine Kiste mit Werkzeug gehabt, mit dem man ein solches Schloss im Nu öffnen konnte. Jetzt musste er die Zähne zusammenbeißen und es auf die grobe Tour machen.
Er hatte vielleicht eine halbe Minute herumgefummelt, da drehte sich Assad um und nahm ihm das Eisen einfach aus der Hand.
Lass doch gut sein, Junge, dachte Carl.
Eine Sekunde später fiel das aufgebrochene Vorhängeschloss vor ihm in den Schotter.
Wenige Augenblicke darauf betrat er das Gebäude, höchst wachsam, aber auch mit dem Gefühl, eine Niederlage eingesteckt zu haben.
Der Raum glich dem, in dem die alte Frau wohnte, nur standen statt der Möbel mitten in der Halle eine Reihe verschiedenfarbiger Gasflaschen für Schweißarbeiten, außerdem vielleicht hundert Meter leere Stahlregale. In der hintersten Ecke waren rostfreie Metallplatten neben einer Tür aufgestapelt. Das war alles. Er sah sich die Tür näher an. Die konnte unmöglich ins Freie führen, dann wäre sie ihm aufgefallen.
Er ging hin, versuchte sie zu öffnen, die Messingklinke glänzte. Die Tür war abgeschlossen. Das Sicherheitsschloss zeigte Gebrauchsspuren neueren Datums.
»Assad, komm rein. Und bring das Eisen mit«, rief er. »Sagtest du nicht, ich soll draußen warten?«, frage Assad, als er vor ihm stand.
Carl deutete auf die Tür. »Zeig mir, was du kannst.«
Ein starker Parfümgeruch schlug ihnen entgegen. Bett, Tisch, Computer, ein großer Spiegel, roter Teppichboden, ein offenstehender Kleiderschrank mit Anzügen und zwei oder drei Uniformen, ein Handwaschbecken mit Glasbord und haufenweise Aftershave- Flaschen. Das Bett war gemacht, die Papiere ordentlich gestapelt. Nichts deutete auf einen Menschen, der aus dem Gleichgewicht geraten war.
»Carl, was glaubst du, warum er abgeschlossen hat?«, fragte Assad, während er die Schreibunterlage hochhob und darunterspähte. Anschließend kniete er sich hin und sah unters Bett.
Carl besichtigte den Rest. Nein, Assad hatte recht.
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