Erbarmen
war nun fast ganz weiß und vollkommen undurchsichtig.
»Du musst dieses Gebäude vollkommen pulverisieren, Lasse. Ich habe hier so viele Visitenkarten hinterlassen, dass ihr sie nicht entfernen könnt. Ihr kommt nicht mit heiler Haut davon.« Sie lachte. »Ihr kommt nicht davon! Das habe ich unmöglich gemacht.«
In der folgenden Minute hörte sie noch weitere sechs Mal einen solchen Knall. Offenbar feuerte er paarweise Schüsse ab. Aber die Glasscheiben hielten alle beide.
Kurz darauf kam der Druck im Schultergelenk. Nicht sehr stark, aber unangenehm. Der und dazu der in der Stirnhöhle und in den Nebenhöhlen und im Kiefergelenk. Ihre Haut spannte. Wenn das die Konsequenz der minimalen Druckverringerung war, die der Spalt dort drüben verursachte, dann würde das, was sie erwartete, wenn sie den gesamten Druck wegnahmen, unerträglich werden.
»Die Polizei kommt«, rief sie. »Ich kann es spüren.« Sie senkte den Kopf und sah auf ihren blutenden Arm. Die Polizei würde nicht rechtzeitig hier sein, das war ihr klar. Bald musste sie den Finger von der Wunde nehmen. In zwanzig Minuten würden sich die Düsen öffnen.
Sie fühlte etwas Warmes am anderen Arm entlangrinnen.
Die erste Stichwunde hatte sich wieder geöffnet. Lasses Prophezeiungen trafen zu. Sobald der Druck in ihrem Körper höher war als der ihrer Umgebung, würde das Blut aus ihr herausschießen.
Sie verdrehte den Körper ein wenig, sodass sie das Handgelenk an ihr Knie drücken konnte. Sie musste lachen. Es kam ihr wie ein Kinderspiel aus ferner Vergangenheit vor.
»Jetzt aktiviere ich den Timer, Merete«, sagte er draußen. »In zwanzig Minuten öffnen sich die Düsen und nehmen den Druck aus dem Raum. Dann wird circa eine halbe Stunde vergehen, bis der Raum auf ein bar heruntergefahren ist. Es stimmt schon, bis dahin kannst du dir das Leben genommen haben, das bezweifle ich nicht. Aber ich kann es nicht mehr sehen, Merete. Ist dir das klar? Ich kann es nicht sehen, weil die Glasscheiben nun vollkommen undurchsichtig sind. Und wenn ich es nicht sehen kann, dann können es die anderen auch nicht. Wir versiegeln die Druckkammer, Merete, wir haben hier draußen jede Menge Gipskartonplatten. In der Zwischenzeit wirst du sterben, so oder so.«
Sie hörte die Frau lachen.
»Bruder, komm und hilf mir«, hörte sie Lasse sagen. Er klang jetzt anders. Er hatte Oberwasser.
Draußen polterte es, und langsam, aber sicher wurde es im Raum immer dunkler. Dann schalteten sie die Scheinwerfer aus, noch mehr Platten wurden vor die Bullaugen gehievt. Schließlich war es vollkommen finster.
»Gute Nacht, Merete«, sagte er leise. »Möge die Hölle dich in ewigem Feuer verzehren.« Dann schaltete er die Lautsprecheranlage ab, und es wurde ganz still.
Kap 38 - Am selben Tag
Der Stau auf der Autobahn war weit schlimmer als üblich. Auch wenn das Martinshorn auf dem Dach Carl fast wahnsinnig machte, hörten die Menschen in den anderen Autos nichts. In Gedanken versunken hatten sie das Autoradio voll aufgedreht und wünschten sich weit weg.
Assad schlug immer wieder wütend auf das Armaturenbrett, und die letzten Kilometer vor der Abfahrt mussten sie auf der Standspur zurücklegen, während die Autos vor ihnen notgedrungen dichter zusammenfuhren, damit sie vorbeikonnten.
Als sie endlich vor dem Hof anhielten, deutete Assad zur anderen Straßenseite. »War das Auto vorhin schon da?«, fragte er.
Carl ließ suchend den Blick über den Schotterweg ins Niemandsland schweifen, bis er den Wagen entdeckte. Er stand etwa hundert Meter weiter, versteckt hinter Gebüsch. Es sah aus wie der vordere Teil der Kühlerhaube eines Geländewagens.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte er und versuchte vergeblich, das Handy in seiner Innentasche zu ignorieren. Dann riss er es heraus und schaute auf die Nummer. Der Anruf kam aus dem Präsidium.
»Ja, Mørck hier«, sagte er und sah zum Hof. Alles war wie gehabt. Keinerlei Anzeichen von Panik oder Flucht.
Lis war am Apparat, sie klang zufrieden. »Es läuft, Carl. Alle Register funktionieren wieder. Diese Saboteurin hat das Gegengift ausgespuckt für den Scheiß, den sie in Gang gesetzt hat. Und Frau Sørensen hat alle Kombinationen der Personennummer für Lars Henrik Jensen eingegeben, um die Assad gebeten hat. Das war echt mühselig, und ich glaube, ihr schuldet ihr dieses Mal einen großen Blumenstrauß. Aber sie hat ihn gefunden. Zwei der Ziffern in seiner Personennummer waren tatsächlich geändert, wie Assad
Weitere Kostenlose Bücher