Erbarmen
tiefen Schatten unter den Augen der Männer ließen keinen Zweifel daran, dass die Gruppe unter enormem Druck stand. An der Wand hing eine große Karte vom Valbypark, auf der wesentliche Elemente des hochaktuellen Falles eingetragen waren: der Tatort des Mordes, der Fundort der Mordwaffe - ein altmodisches Rasiermesser -, die Stelle, wo die Zeugin den Ermordeten und den mutmaßlichen Täter zusammen gesehen hatte, und außerdem die Route der Zeugin durch den gesamten Park. Alles war ausgemessen und analysiert worden, und nichts passte zusammen.
»Carl, ich hab jetzt keine Zeit«, sagte Bak und zupfte am Ärmel seiner schwarzen Lederjacke, die er vom früheren Chef der Mordkommission geerbt hatte. Diese Jacke war sein Ein und Alles, sein Beweis dafür, dass er einfach großartig war. Man sah ihn nur sehr selten ohne sie. Die Heizkörper glühten zwar, und die Raumtemperatur lag bei mindestens vierzig Grad, aber er rechnete vermutlich damit, dass er schnell wieder hinausmusste.
Carl betrachtete die Fotos, die auf der Pinnwand hinter ihm angepinnt waren. Der Anblick war wenig erhebend. Anscheinend hatte sich jemand an der Leiche vergriffen. In der Brust des Leichnams klafften tiefe Wunden, und ein halbes Ohr war abgeschnitten. Damit hatte der Täter vermutlich das Kreuz aus Blut auf das weiße Hemd gemalt. Das gefrorene Gras rings um das Fahrrad war plattgetreten, auch auf dem Fahrrad war herumgetrampelt worden, die Speichen des Vorderrads waren gebrochen. Die Tasche des Opfers war offen, und Bücher und Unterlagen von der Handelshochschule lagen ringsum im Gras verstreut.
»Du hast keine Zeit, sagst du? Okay. Aber kannst du deinen Hirntod vielleicht für einen Moment überwinden und mir mal erzählen, was deine Kronzeugin über die Person sagte, die sie direkt vor dem Mord mit dem Opfer reden sah?«, fragte er.
Die vier Männer blickten ihn an, als hätte er ihre Grabruhe gestört.
Bak sah ihn kalt an. »Carl, das ist nicht dein Fall. Wir unterhalten uns später. Ob du es glaubst oder nicht, aber wir hier oben haben zu tun.«
Er nickte. »Ja, sieht ganz danach aus. Selbstverständlich habt ihr viel zu tun. Und ich nehme doch an, dass ihr längst Leute losgeschickt habt, die die Wohnung der Zeugin untersuchen, nachdem sie ins Krankenhaus eingeliefert wurde.«
Sie sahen sich an. Empört und fragend. Hatten sie also nicht. Na super.
Marcus Jacobsen hatte sich in seinem Büro gerade wieder hinter den Schreibtisch gesetzt, als Carl hereinkam. Marcus sah wie immer gut aus. Der Scheitel war wie mit dem Lineal gezogen, sein Blick hellwach und geistesgegenwärtig.
»Marcus, habt ihr die Wohnung der Zeugin nach ihrem Suizidversuch untersucht?«, fragte Carl ohne Umschweife und deutete auf die Akte, die vor dem Chef auf dem Schreibtisch lag. »Was meinst du?«
»Ihr habt doch das halbe Ohr des Opfers bislang nicht gefunden, oder?«
»Nein, noch nicht. Und du willst damit sagen, es könnte in der Wohnung der Zeugin sein.«
»Wenn ich du wäre, Chef, würde ich danach suchen.«
»Wenn sie es bekommen hat, dann bin ich sicher, dass sie es nicht behalten hat.«
»Dann sucht unten auf dem Hof in den Mülltonnen. Und seht in der Toilette genau nach.«
»Carl, das wäre längst weggespült.«
»Kennst du die Geschichte von der Scheiße, die die Angewohnheit hatte, wieder aufzutauchen, egal, wie oft man zog?«
»Ja, ja, Carl. Lass uns nur machen.«
»Der Stolz der Abteilung, Herr Dr. Musterknabe Bak, will nicht mit mir reden.«
»Dann musst du eben warten, Carl. Deine Fälle laufen ja nicht gleich davon.«
»Ich sage es nur, damit du Bescheid weißt. Das wirft mich in meiner Arbeit natürlich zurück.«
»Dann würde ich doch vorschlagen, dass du dich in der Zwischenzeit mit einem der anderen Fälle beschäftigst.« Er nahm seinen Kugelschreiber und trommelte damit einige Takte an die Tischkante. »Was ist das eigentlich für ein Typ da unten bei dir. Du beziehst ihn doch wohl nicht in die Ermittlungen ein?«
»Ach weißt du, meine Abteilung ist ja sehr groß, und entsprechend gering sind die Chancen, dass er aufschnappt, was da vor sich geht.«
Marcus Jacobsen warf den Kugelschreiber auf einen der Aktenstapel auf seinem Tisch. »Carl, du weißt genau, dass du der Schweigepflicht unterliegst. Und der Mann ist kein Polizist. Nur dass du es nicht vergisst.«
Carl nickte. Er bestimmte selbst, was wann gesagt wurde und zu wem. »Wie habt ihr Assad denn überhaupt aufgetrieben? Kommt er vom Arbeitsamt?«
»Keine
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