Erbarmen
der Heimleiter auf Carls Frage.
Carl sah hinüber zum Regal. Auf dem Rücken ziemlich vieler Ordner stand etwas mit - Fonds. »Ah ja. Und der Fonds ist wie zustande gekommen?«
»Erbschaft. Von den Eltern, die beide bei dem Autounfall ums Leben kamen, dem auch Uffes Invalidität geschuldet ist. Und natürlich von seiner Schwester.«
»Sie war Politikerin, nicht wahr? Abgeordnete des Folketing. Von da kommen doch wohl kaum die großen Mittel?«
»Nein. Aber der Verkauf des Hauses brachte zwei Millionen, als sie endlich, vor nicht allzu langer Zeit, für tot erklärt wurde. Der Fonds beläuft sich nun insgesamt auf etwa zweiundzwanzig Millionen Kronen. Aber das ist Ihnen ja sicher bekannt.«
Er stieß einen leisen Pfiff aus. Das hatte er nicht gewusst. »Zweiundzwanzig Millionen, fünf Prozent Zinsen. Ja, das sollte Uffes Aufenthalt doch finanzieren.«
»Das ist richtig. Nach Abzug der Steuern deckt das in etwa die Kosten.«
Carl sah ihn unwillig an. »Und Uffe hat nichts zum Verschwinden seiner Schwester gesagt, seit er hier ist?«
»Nein. Soweit ich unterrichtet bin, hat er bereits seit dem Autounfall nicht mehr gesprochen.«
»Und was tut man hier, um ihn in der Hinsicht zu fördern?« An dieser Stelle setzte der Heimleiter die Brille ab und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Lynggaard wurde nach allen Regeln der Kunst untersucht. Im Sprachzentrum des Gehirns findet man nach einer Gehirnblutung Narbengewebe, was an und für sich ausreicht als Erklärung, warum er stumm ist. Aber darüber hinaus hat der Unfall ein tiefes Trauma hinterlassen. Der Tod der Eltern, deren Verletzungen. Und er selbst war ja ebenfalls sehr schwer verletzt, aber das wissen Sie wohl.«
»Ich habe den Bericht gelesen, ja.« Das stimmte zwar nicht, aber Assad hatte ihn gelesen, und sein Mund hatte während der Fahrt über die Landstraßen Nordseelands nicht stillgestanden. »Er lag fünf Monate mit schwersten Verletzungen in der Klinik, innere Blutungen in Leber, Milz und Lunge. Außerdem hatte er Sehstörungen.«
Der Heimleiter nickte leicht. »Das ist korrekt. So steht es in der Krankenakte. Uffe Lynggaard hat wochenlang nicht sehen können. Die Blutungen in der Netzhaut waren massiv.«
»Und jetzt? Ist er - zumindest in pyhsiologischer Hinsicht wiederhergestellt?«
»Alles deutet darauf hin. Er ist ein starker junger Mann.«
»Vierunddreißig Jahre alt. In diesem Zustand befindet er sich also seit einundzwanzig Jahren.«
Der bleiche Mann nickte wieder. »Vielleicht begreifen Sie jetzt, dass Sie auf diesem Weg nicht weiterkommen.«
»Und ich darf nicht mit ihm sprechen?«
»Ich sehe darin keinen Sinn.«
»Er ist der Letzte, der Merete Lynggaard lebend gesehen hat. Ich möchte ihn gern sehen.«
Der Heimleiter richtete sich auf. Jetzt blickte er über den Fjord, genau so, wie Carl es sich zuvor schon ausgemalt hatte. »Ich finde nicht, dass Sie das tun sollten.«
Kerle wie der hier verdienten, dass ihnen mal ein Eimer Tippex an den Kopf flog. »Sie glauben, dass ich mich nicht so zurückhalten kann, wie Sie meinen, dass ich es tun sollte.« »Wie bitte?«
»Kennen Sie die Polizei?«
Er wandte sich mit aschfahlem Gesicht und gerunzelter Stirn Carl zu. Viele Jahre hinter dem Schreibtisch hatten an ihm gezehrt, aber im Kopf war er hellwach. Er wusste nicht, worauf Carl mit seiner Frage hinauswollte, aber er ahnte, dass Schweigen sie an dieser Stelle nicht weiterbrachte.
Worauf wollen Sie mit der Frage hinaus?«
»Wir sind neugierig, wir Polizisten. Manchmal brennt uns eine Frage unter den Nägeln, auf die wir eine Antwort finden müssen. Diesmal springt sie einem regelrecht ins Auge.«
»Und das wäre?«
»Was bekommen Ihre Patienten für ihr Geld? Fünf Prozent von zweiundzwanzig Millionen, abzüglich Steuern natürlich, das ist doch ein Batzen. Bekommen die Patienten den vollen Gegenwert für ihr Geld, oder zahlen sie womöglich zu viel, wenn auch noch der Staatszuschuss obendrauf kommt? Oder ist der Preis für alle gleich?« Er nickte gedankenverloren und genoss das Licht über dem Fjord. »Dauernd tauchen neue Fragen auf, wenn man auf die ersten keine Antwort bekommt. So sind die Leute von der Polizei. Sie können es einfach nicht lassen. Vielleicht ist das eine Krankheit, aber zu wem sollte man denn gehen, um sich kurieren zu lassen?«
Inzwischen hatte das Gesicht des Heimleiters etwas Farbe angenommen. »Mir scheint, wir kommen im Augenblick nicht zusammen.«
»Dann lassen Sie mich Uffe Lynggaard sehen.
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