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Erbarmen

Erbarmen

Titel: Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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Ganz ehrlich, was kann schon passieren? Sie haben ihn doch wohl nicht in einen verdammten Käfig gesteckt, oder?«
    Die Fotos in der Akte Merete Lynggaard wurden Uffe Lynggaard nicht wirklich gerecht. Es waren Fotos der Polizei, Gerichtszeichnungen, als er dem Untersuchungsrichter vorgeführt wurde, und ein paar Aufnahmen aus der Presse. Sie zeigten einen jungen Mann, der, gebeugt und blass, einem geistig retardierten Menschen mit äußerst begrenzter Auffassungsgabe glich. Aber die Wirklichkeit zeigte etwas anderes.
    Er saß in einem sehr hübschen Zimmer, dessen Aussicht mindestens so gut war wie die des Heimleiters. An den Wänden hingen Bilder, das Bett war frisch gemacht, die Schuhe glänzten, seine Kleidung war sauber und ordentlich. Nichts in diesem Raum verbreitete die Aura der übrigen Institution. Er hatte kräftige Arme mit langen blonden Härchen, war breitschultrig, vermutlich auch recht groß. Viele würden sagen, ein gut aussehender Mann. Uffe hatte nichts von einem sabbernden, jammervollen, geistig behinderten Menschen.
    Der Heimleiter und eine Oberschwester beobachteten von der Tür aus, wie Carl im Zimmer herumging. Niemand würde an seinem Verhalten etwas auszusetzen haben. Er würde bald wiederkommen. Besser gerüstet. Und dann würde er mit Uffe reden. Derweil gab es im Zimmer noch andere Sachen, die seine Neugier weckten. Das Foto der Schwester, das einen anlächelte. Die Eltern, die sich umarmten und dem Fotografen zulächelten. Die Zeichnungen an den Wänden, die nicht im Entferntesten an jene Kinderzeichnungen erinnerten, die man sonst an solchen Wänden sah. Fröhliche Zeichnungen. Keine Zeichnungen, die etwas über das Entsetzliche aussagten, das ihm die Sprache geraubt hatte.
    »Gibt es noch mehr von diesen Bildern? Liegen vielleicht noch welche in der Schublade?«, fragte er und deutete auf die Kommode und den Schrank.
    »Nein«, antwortete die Oberschwester. »Nein. Uffe hat nicht gezeichnet, seit er hier eingewiesen wurde. Diese Zeichnungen stammen aus seinem Zuhause.«
    »Was macht Uffe eigentlich so den ganzen Tag?«
    Sie lächelte. »Vieles. Mit dem Personal spazieren gehen, draußen im Park herumlaufen. Fernsehen. Das liebt er.« Sie wirkte sanft und gutmütig. An sie würde er sich beim nächsten Mal halten.
    »Und was sieht er so?«
    »Was gerade kommt.«
    »Reagiert er darauf?«
    »Manchmal. Dann lacht er.« Sie schüttelte zufrieden den Kopf, und ihr Lächeln wurde breiter.
    »Er lacht?«
    »Ja. Wie Säuglinge lächeln. Sie wissen schon: so ein Engelslächeln. Völlig unreflektiert.«
    Carl sah den Heimleiter an, der wie ein Eisblock dort stand, und von ihm zu Uffe. Der Blick von Meretes Bruder hatte auf Carl geruht, seit er hereingekommen war. So etwas spürte man. Er beobachtete, aber wenn man genauer hinschaute, wirkte sein Blick tatsächlich unreflektiert. Uffes Blick war nicht leblos, aber was Uffe sah, drang offensichtlich nicht sehr tief in ihn ein. Carl hätte ihn gern erschreckt, um zu sehen, was dann passierte, aber auch das konnte warten.
    Er stellte sich ans Fenster und versuchte, Uffes flackernden Blick einzufangen. Die Augen erfassten, was sie sahen, verstanden es aber nicht, das konnte man leicht sehen. Etwas war da und doch auch wieder nicht.
    »Rutsch rüber auf die andere Seite, Assad«, sagte er zu seinem Assistenten, der hinter dem Steuer gesessen und auf ihn gewartet hatte.
    »Auf den anderen Sitz? Ich soll also nicht fahren?«, fragte er. »Assad, ich würde das Auto sehr gern noch eine Weile behalten. Es hat ABS-Bremsen und Servolenkung, und so soll es auch bleiben.«
    »Und was hat das zu bedeuten?«
    »Dass du jetzt richtig gut zuschauen sollst, damit du so fährst, wie ich es will. FALLS ich dich je wieder ans Steuer lasse.«
    Er tippte ihr nächstes Ziel ins GPS ein und scherte sich nicht um den Schwall arabischer Worte, die Assad von sich gab, während er den Platz wechselte.
    Als sie schon eine Zeitlang in Richtung Stevns fuhren, fragte Carl: »Bist du jemals hier in Dänemark Auto gefahren?«
    Das Schweigen reichte ihm als Antwort.
    Sie fanden das Haus in Magelby in einer Nebenstraße am Ortsrand. Keine kleine Kate und auch kein restaurierter Hof, wie so viele der Häuser, sondern ein sehr gediegen wirkendes Haus aus einer Zeit, in der die Fassade noch die Seele des Hauses spiegelte. Die Lebensbäume wuchsen dicht an dicht, aber das Haus überragte sie. Wenn dieses Haus für zwei Millionen verkauft worden war, dann hatte jemand ein richtig gutes

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