Erbarmen
Marion Koch sich zu Wort. »Merete nahm ihren Kalender immer mit nach Hause.« Ihre zusammengezogenen Augenbrauen duldeten keinen Widerspruch. »Immer«, wiederholte sie.
»Wie sah der aus?«
»Ganz normal, so ein Filofax. In einer abgewetzten rotbraunen Lederhülle. Tagesplanung, Taschenkalender und Adressregister m einem.«
»Und der ist meines Wissens nicht wieder aufgetaucht. Wir müssen also annehmen, dass er zusammen mit ihr im Meer verschwunden ist.«
»Das glaube ich nicht«, schaltete sich sofort die Sekretärin ein.
»Und zwar ... ?«
»Weil Merete immer eine kleine Handtasche bei sich hatte, und der Kalender passte da einfach nicht rein. Sie legte ihn fast immer in ihre Aktentasche, und die hatte sie garantiert nicht dabei, als sie oben auf dem Sonnendeck stand. Sie hatte Urlaub. Und im Auto lag die doch auch nicht, oder?«
Er schüttelte den Kopf. Seiner Erinnerung nach nicht.
Carl hatte lange auf die Krisenpsychologin mit dem wunderbaren Hintern gewartet, und inzwischen war ihm nicht mehr ganz wohl bei der Sache. Wäre sie pünktlich gekommen, hätte er sich einfach von seinem natürlichen Charme leiten lassen, aber jetzt, wo er seit mehr als zwanzig Minuten seine Sätze wiederholt und sein Lächeln eingeübt hatte, war die Luft raus.
Als sie ihre Ankunft im zweiten Stock endlich ankündigte, entschuldigte sie sich zwar, wirkte aber nicht sonderlich schuldbewusst. Es war diese Art Selbstsicherheit, die Carl total faszinierte. Das war auch der Grund gewesen, weshalb er damals so auf Vigga abfuhr, als sie sich kennenlernten. Das und ihr ansteckendes Lachen.
Mona Ibsen nahm ihm gegenüber Platz. Das Licht aus der Otto-Mønsteds-Straße bildete einen Strahlenkranz um ihren Kopf. Auch in dem weichen Licht waren ihre feinen Fältchen zu sehen. Ihre sinnlichen Lippen hatte sie tiefrot geschminkt. Alles an ihr hatte Klasse. Er sah ihr in die Augen, damit sein Blick nicht an ihrem prachtvollen Vorbau hängenblieb. Um nichts in der Welt wollte er diesen Zustand beenden.
Ohne große Vorrede ließ sie sich von ihm die Ereignisse auf Amager noch mal erzählen: Zeitpunkte, Personenkonstellationen, alles, und mochte es auch noch so bedeutungslos erscheinen, zog sie ihm aus der Nase. Und Carl drückte auf die Tube. Etwas mehr Blut als in Wirklichkeit. Etwas lautere Schüsse, tieferes Stöhnen. Mona Ibsen hörte aufmerksam zu und machte sich Notizen. Als er gerade erzählen wollte, was der Anblick seines toten und seines schwerverletzten Freundes mit ihm gemacht hatte und wie schlecht er seither schlief, schob sie ihren Stuhl zurück, legte ihre Visitenkarte auf den Tisch und begann ihre Sachen zusammenzupacken.
»Was - was soll das jetzt?«, fragte er, als ihr Block in der ledernen Tasche verschwand.
»Ich meine, das sollten Sie sich besser selbst fragen. Wenn Sie bereit sind, mir die Wahrheit zu erzählen, dann rufen Sie mich bitte wieder an, und dann komme ich auch.«
Er runzelte die Stirn. »Was wollen Sie damit sagen? Alles, was ich Ihnen eben erzählt habe,
ist
die Wahrheit.«
Sie zog die Tasche an sich. Unter ihrem engen Rock wölbte sich der Bauch. »Hören Sie: Sie sehen nicht aus wie jemand, der unter Schlafstörungen leidet. Und glauben Sie mir: Ich kenne den Bericht ganz gut. Es ist nicht nötig, das Ganze aufzubauschen. Wirklich nicht.« Er wollte protestieren, aber sie hob die Hand. »Ich sehe es Ihren Augen an, wenn Sie Hardy Henningsen erwähnen und Anker Høyer. Ich weiß nicht, warum ich das glaube, aber Sie haben hier etwas noch ganz und gar nicht zu Ende gebracht. Und sobald Sie von Ihren Kollegen sprechen, die nicht so glimpflich davongekommen sind wie Sie, kommt das wieder hoch, und Sie wissen kaum, wie Sie sich dem stellen sollen. Wenn Sie bereit sind, mir die Wahrheit zu erzählen, komme ich gern wieder. Aber vorher kann ich Ihnen nicht helfen.«
Er stieß einen mickrigen Ton aus, der eigentlich als Protest gemeint war, ihm aber auf halbem Weg im Hals stecken blieb. Stattdessen verschlang er sie auf denkbar plumpeste Weise mit einem Blick, der Frauen wie ihr höchstens ein Kopfschütteln entlockte.
»Einen Augenblick noch«, zwang er sich zu sagen, ehe sie die Tür hinter sich schloss. »Sie haben recht. Ich war mir dessen aber nicht bewusst.«
Er überlegte fieberhaft, was er noch sagen könnte, als sie sich wieder zum Gehen wandte.
»Vielleicht können wir besser bei einem Essen darüber sprechen?«, platzte es aus ihm heraus.
Dass dieser Schuss unendlich weit daneben
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