Erbarmen
Augen. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie plötzlich losgelacht hätte. Aber nichts dergleichen geschah.
»Das wusste ich nicht«, sagte er.
»Nun«, antwortete sie.
»Sie hätten nicht zufällig ein Foto von Daniel Hale, das Sie entbehren könnten?«
Sie streckte den Arm zehn Zentimeter nach rechts und griff eine Broschüre, die neben fünf, sechs kleinen Mineralwasserflaschen auf einer gläsernen Theke lag.
»Bitte sehr«, sagte sie.
Erst nach einigem Hin und Her mit der gereizten Sekretärin konnte Carl mit Bille Antvorskov telefonieren.
»Ich habe ein Foto eingescannt, dass ich Ihnen sehr gern mailen möchte. Wäre es in Ordnung, wenn wir darauf sofort zwei Minuten verwendeten?«, sagte er, nachdem er sich gemeldet hatte.
Antvorskov willigte ein und gab ihm seine E-Mail-Adresse.
Carl drückte auf die Tasten und blickte auf den Bildschirm, während er das Dokument losschickte.
Es handelte sich um ein ausgezeichnetes Foto von Daniel Hale, das er der Broschüre entnommen und eingescannt hatte. Ein schlanker, blonder Mann, ziemlich groß, sonnengebräunt und gut gekleidet, genau wie der Mann, mit dem Merete in der Kantine gesehen worden war. Man wäre nie auf die Idee gekommen, dass der Mann schwul war, ging es Carl durch den Kopf, und er sah den Wagen vor sich, der auf der Landstraße von Kappelev verunglückte und in Flammen aufging.
»Ja«, sagte Bille Antvorskov am anderen Ende. »Jetzt habe ich den Anhang geöffnet.« Sekundenlang herrschte Schweigen. »Und was soll ich nun damit?«
»Können Sie bestätigen, dass Sie auf dem Foto Daniel Hale sehen? War er es, der an dem Termin in Christiansborg teilnahm?«
»Der da? Den habe ich noch nie gesehen.«
Kap 26 - 2005
Als sie fünfunddreißig wurde, flutete das Licht aus den Leuchtstoffröhren an der Decke wieder durch den Raum. Damit verschwanden die Gesichter hinter den Spiegelglasscheiben.
Nicht alle Röhren in den verglasten Kästen brannten dieses Mal. Eines Tages müssen sie hereinkommen und die Röhren auswechseln, sonst endet das hier in ewiger Dunkelheit, dachte sie. Sie stehen doch immer da und beobachten mich. Darauf wollen sie doch nicht verzichten. Eines Tages kommen sie herein und tauschen die Röhren aus. Sie verringern ganz behutsam den Druck, und dann erwarte ich sie.
An ihrem letzten Geburtstag hatten sie den Druck im Raum wieder erhöht. Aber sie kümmerte sich inzwischen nicht mehr darum. Konnte sie vier bar aushalten, würde sie auch fünf bar ertragen können. Sie wusste nicht, wo die Grenze lag, aber die war noch nicht erreicht. Genau wie im letzten Jahr hatte sie ein paar Tage lang Halluzinationen. Es war, als drehte sich der Hintergrund des Raumes, während der Rest scharf blieb, und sie hatte gesungen und ihr war leicht ums Herz gewesen. Die Realität hatte ihre Bedeutung verloren. Erst nach einigen Tagen hatte die Wirklichkeit sie wieder eingeholt. Damals hatte der Heulton in ihren Ohren eingesetzt. Anfangs war der Ton noch recht schwach, und sie bemühte sich mit Gähnen und Naseschneuzen, den Druck auszugleichen, so gut sie konnte. Aber nach vierzehn Tagen war der Ton permanent da. Ein ganz klarer Ton, wie der vom Testbild des Fernsehers. Höher und reiner, aber hundertfach nervtötender. Der verschwindet wieder, Merete, redete sie sich ein. Du musst dich nur erst an den Druck gewöhnen. Warte nur, morgen, wenn du aufwachst, ist er weg. Dann ist er weg, versprach sie sich selbst. Aber Versprechen, die aus Unwissenheit gegeben werden, sorgen stets für Enttäuschungen.
Als der Heulton dann drei Monate lang anhielt, war sie kurz davor, durchzudrehen - aus Schlafmangel, aber auch, weil sie durch dieses Heulen permanent daran erinnert wurde, dass sie in einer Todeskammer lebte, abhängig von der Gnade ihrer Henker. Wie gut es ihr vorher auch gelungen sein mochte, dem Gefängnis zu entfliehen, wenn auch nur in Gedanken - jetzt gestand sie sich zum ersten Mal ein, sich das Leben nehmen zu wollen.
Es würde doch ohnehin damit enden, dass sie sie töteten. Das wusste sie jetzt. Das Gesicht der Frau hatte eine eindeutige Sprache gesprochen. Von Hoffnung war darin nicht die Rede. Die würden sie nicht laufen lassen. Niemals. Dann doch lieber von eigener Hand sterben. Und selbst bestimmen, auf welche Weise.
Abgesehen vom Toiletten- und vom Essenseimer, von der Taschenlampe und den beiden Nylonstäbchen aus der Daunenjacke, von denen der kurze nun als Zahnstocher diente, von ein paar Rollen Toilettenpapier und den
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